Man muss zweimal auf die Plakate schauen und kann es fast nicht glauben: Simon Rattle kommt nach Lugano! Der charismatische Engländer, ehemals Chef der Berliner Philharmoniker und des London Symphony Orchestra und seit der Saison 2023/24 Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, gibt ein Konzert in der kleinen Touristenstadt in der italienischen Schweiz. Gastgeber ist Etienne Reymond, der Direktor von Lugano Musica, gespielt wird im LAC, dem Kulturzentrum Lugano Arte e Cultura direkt am Luganersee. Rattle dirigiert das Chamber Orchestra of Europe, und als Solistin wirkt seine Ehefrau, die Mezzosopranistin Magdalena Kožená, mit.

Wer dieses Orchester noch nie gehört hat, mag sich wundern, dass der weltberühmte Dirigent mit einem vermeintlichen Zweitklasseorchester zusammenarbeitet. Doch gleich das Eröffnungsstück, das Scherzo capriccioso, Op.66 von Antonín Dvořák, lässt aufhorchen. Hier ist ein absolut professionelles und topmotiviertes Ensemble am Werk. Das etwa eine Viertelstunde dauernde Stück entpuppt sich in der Wiedergabe als anspruchsvolles Gebilde, bei dem das Leichte auf Hintergründiges und Dramatisches trifft.
Das Chamber Orchestra of Europe wurde 1981 gegründet und besteht aus rund sechzig Mitgliedern aus verschiedenen europäischen Ländern. Neben ihrer Mitwirkung in diesem Ensemble verfolgen die Musiker unterschiedliche Karrieren als Solisten, Kammermusiker, Orchestermusiker oder Dozenten an Musikhochschulen. Das Orchester arbeitet auf Projektbasis und wird seit seiner Gründung von namhaften Mentoren gecoacht. Waren dies früher Claudio Abbado, Nikolaus Harnoncourt oder Bernard Haitink, so sind es heute Yannik Nézet-Séguin, András Schiff oder eben Simon Rattle. Mit ihm unternimmt das Orchester gerade eine Tournee, die neben Lugano auch auf Schloss Esterházy in Eisenstadt, am Ravenna-Festival und am Epidaurus-Festival in Athen Halt macht.
Im Mittelteil des Konzerts steht jedoch Magdalena Kožená im Rampenlicht. Mit Orchesterliedern von Béla Bartók und Gustav Mahler demonstriert die Sängerin eindrucksvoll, dass sie zu den großartigsten Vertreterinnen ihres Fachs gehört. Bartóks Fünf ungarischen Volkslieder für Stimme und Orchester verfehlen ihre Wirkung keineswegs, auch wenn man die Sprache nicht versteht. Man braucht nur den Tonfällen und den sprechenden Gesichtszügen der Sängerin zu folgen, um den Charakter dieser Gesänge zu verstehen.
Eine zusätzliche Dimension kommt mit Mahlers Rückert-Liedern zum Tragen. Die allbekannte Musik und die sinnliche Poesie Friedrich Rückerts schaffen zusätzliche Erwartungshaltungen. Die Sängerin löst sie alle ein, schafft bei jedem Stück in Sekundenschnelle eine charakteristische Atmosphäre. Den Schluss des Liedes Ich bin der Welt abhanden gekommen beispielsweise singt Kožená derart verklärt, dass man sich kaum noch zu atmen getraut. Und auch dem Orchester gelingt da ein Pianissimo der abgehobensten Art.
Die eigentliche Nagelprobe für das Chamber Orchestra of Europe folgt mit Franz Schuberts Symphonie Nr. 9 in C-Dur. Nach gut fünfzig Minuten Spieldauer stellt man als Hörer fest: sie ist bestanden. Rattle erweist sich auch bei diesem Orchester als großer Kommunikator und einnehmender Charismatiker. Wenn er vor seinen Musikerinnen und Musikern steht, kann eigentlich nichts schiefgehen. Interpretatorisch hält der Dirigent eine gute Balance zwischen Schubertischem Liederton und symphonischem Anspruch. Ein Beispiel wäre das Andante con moto: In seinen Hauptteilen warten die Holzbläser mit wunderbaren Themen in unterschiedlichen Klangkombinationen auf. Gegen Schluss bricht unerwartet ein orchestraler Sturm in diese Melodienseligkeit hinein – und danach ist nichts mehr so wie vorher. Im Scherzo schlägt die Stunde der Streicher, die das virtuose Thema mit unglaublicher rhythmischer Präzision bewältigen. Und das Finale gehört den Blechbläsern, die das großdimensionierte Werk zu einem triumphalen Abschluss bringen.
Thomas Schachers Hotelkosten in Lugano wurden von LuganoMusica übernommen.