Geboren bin ich in Berlin, aber aufgewachsen und kulturell erzogen bin ich im Ruhrgebiet. Dort gab es in den Siebzigerjahren jede Menge Orchester- und Kammermusik, Oper in Gelsenkirchen, Duisburg und Dortmund, Schauspiel in Bochum und die Maifestspiele in Recklinghausen. Vor nunmehr 19 Jahren wurde die Ruhrtriennale ins Leben gerufen, die „Salzburger Festspiele des Kohlenpotts“. Mit hochkarätigen Aufführungen in stillgelegten Industrieanlagen der Montanindustrie gibt dieses sechswöchige Kunstfestival dieser Region mit unterschiedlichsten Kulturen nicht nur jeden Sommer einen internationalen besetzten kreativen Adrenalinstoß, sondern bringt vor allem Jahr für Jahr eine Ode an die herbe Schönheit dieses unvergleichlichen Landstrichs.
Seit diesem Sommer ist die Schweizer Schauspiel- und Musiktheaterregisseurin Barbara Frey die Intendantin der Ruhrtriennale. Ihren ersten Festspielkatalog beginnt sie mit einem bemerkenswerten Zitat ihres Landsmannes Robert Walser: „Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas.“ Ganz in diesem Sinne ließ Frey am vergangenen Samstag die erste ihrer drei Spielzeiten mit einem über fünfstündigen Konzert unter dem Titel Nachtraum zu Ende gehen. Und was habe ich nicht alles liegend und ab und zu halbträumend doch gleichzeitig intensiv hörend erlebt!
Der riesige Konzertraum der Jahrhunderthalle in Bochum war für dieses Konzert nur in der Breite beschnitten. An den kurzen Querseiten des so entstandenen Rechtecks waren zwei Podia errichtet und ausgeleuchtet. Zwischen den beiden weit auseinanderliegenden Bühnen waren für das Publikum circa 160 Futons verteilt. Lag man wie ich an der einen Seite konnte man die Musiker auf der gegenüberliegenden Seite kaum unterscheiden. Die Musik jedoch war in der hohen Halle mit seiner stählernen Dachkonstruktion überall ausgezeichnet zu hören. Auch die Längsseiten waren zusätzlich noch mit kleineren Podesten versehen.
Auf diesen entfaltete sich vor der ersten Pause die atemberaubende Aufführung von Iannis Xenakis Persephassa, seiner ersten reinen Schlagzeugkomposition aus dem Jahre 1969. Die Schlagzeuger Lukas Schiske, Björn Wilker, Alexander Lipowski, Gabriel Vogelauer, Lea Priemetzhofer und Hannes Schöggl vom Klangforum Wien waren mit jeweils ähnlichem Instrumentarium ausgestattet. Zu Metall-, Holz- und Fellinstrumenten kamen Steine und Sirenen. In seiner halbstündigen Komposition schichtete Xenakis unterschiedliche Rhythmen übereinander und ließ diese Klänge durch den Raum wandern. Bewundernswert war es zu sehen, wie die Musiker über die weiten Entfernungen hin doch Kontakt miteinander unterhielten. Als Zuhörer war man eingehüllt in miteinander verzahnte polymetrische Geflechte, aus denen sich immer wieder bestimmte laute Klänge hervorschälten. Im entspannten Schwebezustand zu ebener Erde der abgedunkelten ehemaligen Fabrikhalle schien die Musik Farbe und Form zu bekommen und man fühlte sich regelmäßig emporgehoben und eins werden mit den komplexen Klängen.
Ein weiterer Höhepunkt dieses spektakulären modernen Musikmarathons waren die von Rebecca Saunders speziell für dieses Konzert zusammengestellten Fragmente aus ihrer Werkekonstellation Yes. Neben den Solostücken Flesh für Akkordeon, ingeniös gespielt und eingeatmet gesprochen und geflüstert von Krassimir Sterev, und Hauch für Violine, einer Studie in klanglicher Zartheit, dessen Interpretin ich nur als an die Wand projektierter Schattenriss erkennen konnte, war es vor allem das ebenfalls 2018 geschriebene Trio Sole, dass großen Eindruck auf mich machte. Musste Sterev darin doch im Gehen spielen, indem er sich von einem Notenständer zum nächsten bewegte und mit ihm sich auch die klangliche Präsenz des Stückes sich immer weiter verlagerte. Wie ein sich ausbreitender Wasserfleck nahmen die mystischen Klänge von präpariertem Klavier und melodischem Schlagzeug mit sich stets weiter weg bewegenden leisen Akkordeonsäuseln Besitz von dem dunklen überdimensionalen Ballsaal voller ruhender Musikliebhaber. Nether, das abschließende Stück dieses Saunders-Zyklus mit der expressiven Daisy Press, Sopran und dem wie immer hervorragend leitenden Bas Wiegers war wohlverdiente Zugabe und Schlaflied auf Texte von James Joyce in einem.
Dieses Festivalexperiment schmeckt nach mehr – trotz wenigen Schlafs fühlte ich mich am nächsten Tag seltsam beschwingt und genieße noch heute von diesem einzigartigen Vergnügen. Ich höre die Musik immer noch...