Als ich zuletzt 2018 in Utrecht Jean-Philippe Rameaus Opernschwanengesang Les Boréades mit Dirigentenzuschauer Jordi Savall auf dem Sitzplatz hinter mir hörte, wies ich in meiner folgenden Einleitung zur Rezension auf die komplizierte Musikrechtesituation hin, die dazu führte, dass das Werk über die Unerschütterlichkeit der die adligen Gesellschaftsfesseln sprengenden Liebe erstmalig 1982 komplett und szenisch von John Eliot Gardiner aufgeführt worden war. Ein historisch gewichtiger Umstand, der Karrieren wie die Simon Rattles und Marc Minkowskis ein gehöriges Stück mitprägen sollte und ja auch Savall bis heute anzieht. Einen Namen ließ ich unbeabsichtigterweise unerwähnt: György Vashegyi, der – wie er nochmals im Bachtrack-Interview erzählte – 1988 auf Gardiner traf, welcher wiederum in ihm den Entschluss bekräftigte, Dirigent seiner eigenen Gruppen in Budapest zu werden.

György Vashegyi © Gábor Kotschy
György Vashegyi
© Gábor Kotschy

Nicht umsonst heißen seine Ensembles – inspiriert von Gardiners Monteverdi Choir and Orchestra – Purcell Choir und Orfeo Orchestra. Mit ihnen kam Vasghegyi im März dieses Jahres wieder zur NTR ZaterdagMatinee, im Gepäck Rameaus Oper Castor et Pollux, mit der für ihn alles in dieser Art vor mittlerweile dreißig Jahren in seiner Passion zum Komponisten und französischer Musik generell begann. Nun also Les Boréades – gewissermaßen Schluss eines Kreises? In der Tat, ist Rameaus letzte Oper um das dem Nordwindgott Boréas und dessen Söhnen trotzende Paar Alphise und Abaris gleichzeitig das Finale Vashegyis etwas im Windschatten angelegten Rameau-Zyklus' in Kooperation mit dem Barockmusikzentrum in Versailles.

Gemeinsam mit dem neugegründeten ungarischen Pendant für Alte Musik, das gar in Versailler Personalunion unter künstlerischer Gesamtleitung Benoît Dratwickis steht, wurde das Werk in individuell eingerichteter Edition natürlich jetzt auch noch in Budapest aufgenommen. Mit den Tourstationen vor dem wirklich letzten Windhauch in Amsterdam waren die im institutionellen französischen Rameaupflegekonzentrat bekannten Solisten sowie die Gruppen Vashegyis – abgesehen von minimalen Abstrichen bei Oboen und Piccoloflöten – demnach bestens präpariert. So entfalteten sich zu wohltuender Erwartungsbestätigung im Concertgebouw die revolutionistischen Rameau-Farben, ganz in Vashegyis vertraut warmem, royal-elegantem und übersichtlichem Klangkleid, das schillernd nicht mit schrill vermischte und im stets formgebenden wie willig und detailliert -lenkenden Schnitt die kontrastierenden Proportionen wunderbar in Szene setzte.

Ermöglichten genaues Dirigat und akribisches Tonbild mit besonders lobenswerter Riege der vier Fagotte aus souveränem Orfeo Orchestra eine unbestechlich präzise Rhythmik und verlässlich-verbindliche Abgestimmtheit mit völlig kultiviertem, idiomatisch abgebrühtem Chor und den Solisten, waren es Vashegyis damit zum Ausdruck kommende rationale Professionalität und unverbrüchlich musikalische Hingabe, die im wahrsten Sinne der Redewendung glatt über die Bühne gingen. Organisch fügten sich daher neben einer schlichten Hervorhebung der zugrundeliegenden Modernität, vor allem Rameaus fünften Akts, auch die Verbindungselemente von Récits und romantisch feinsinnigen Airs, die Divertissements aus Tambourin-Trommel-Tanz-Tamtam und eclairsüßlichen Entrées sowie die Borée-Machtdemonstration mit Windmaschine und Donnerblech aneinander.

Mit dem Chorklang stimmte solistisch Gwendoline Blondeel perfekt überein. Sowohl als fürsorgliche, zusprechende Alphise-Vertraute Sémire als auch in den wortführenden Erscheinungen von Nymphe, Liebes-Allegorie und Muse Polymnie machte sie den Rollen alle Ehre. Gar solche, dass sie mich – hatte ich sie vorher schon oft gehört, oder gerade deswegen – mit einer durchsetzungsstarken, tragenden Kraft temperiertester Sopran-Agréabilität überraschte, zugleich mit Orientierung vermittelnder, zauberhafter Klarheit in Artikulation und Phrasierung wohlfühlgeschmacklich abholte, mit der sie Sabine Devieilhe überflügelte. Devieilhe selbst – mal eben zwischen Mozart-Requiem-Konzerten mit ihrem Gatten Pichon in diesem Projekt unterwegs – brachte ihren dagegen metallener wirkenden Sopran mit zärtlicherer Dynamik, allerdings größerer Vibratoschmückung zur Gefühlsabwärme und Expressionsgestaltung Alphises Opferungswillen ein. Sichere, geschmeidige und virtuos sprudelnde Höhen ließen dabei aber nichts zu wünschen übrig, um nicht nur abaris-, sondern auch hörerseitig in gespiegelte Hingerissenheit zu verfallen.

Zu Wehr setzen musste sich ihre baktrische Königinnenfigur dem windigen familiären Dreigespann aus Calisis, Borilée und Boréas, das von Benedikt Kristjánsson, Philippe Estèphe und Thomas Dolié gesungen wurde. Blieb Estèphe trotz recht gewandten Vorbringens auf leerausgehendem Vermählungsposten des baritonalen Borilée etwas blasser, legte sich Kristjánsson als Calisis (darin in Utrecht erlebt) – ebenfalls hoffnungslos – mit seinem Tenor eindrucksvoll und meisterlich ins Zeug, wenngleich die haute-contre-fasslichen Höhen teils ein wenig stumpf-angedrückter klangen. Boréas kurzen Auftritt absolvierte Dolié mit gewaltig wütender, nicht trockener, doch leierigerer Bariton-Strenge, die in gute Sack-und-Asche-Tiefe ging, als der Windgott von Apoll eingenordet wurde. Jener (zuvor Adamas) hatte in Tassis Christoyannis einen erst merklich weicheren, in weise Erscheinung tretenden, dann in bebenderer, die Vaterschaft von Abaris enthüllender Regung einen ebenso bekannt unstrafferen, verständnisschwierigeren Bariton.

Abaris bekam durch den Rameau-(Haute-Contre)-Tenor unserer Zeit schlechthin, Reinoud Van Mechelen, die heldenhafte Stimme, die den Opernnamenszusatz ou la triomphe d'Abaris verdient. Mit stimmstrahlendem Geschick und dem, dass sich so etwas wie Register bis zur grenzenlosen Unmerklichkeit in komplett unangestrengt erscheinender Befähigung versteckten, stellte er die unmissverständliche Liebesleidenschaft in menschlich anfassender, aufrechter, einfühlsamer Weise, alle stilistische Musikalität und deutliche Aussprache in den Vordergrund. Im Duett mit Devieilhe zum hochzeitlichen Segen konnte man sich von dieser stimmigen Paarung letztlich genauso überzeugen wie von Vashegyis Zyklus, der mit dem Militärtrommelschlag des berüchtigten „Contredanse“ ein frenetisch gefeiertes Ende fand.

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