Generationen von Großmüttern haben ihren Enkelkindern die Märchen der Brüder Grimm erzählt, so auch die Geschichte vom Aschenputtel: Angelina, ein junges Mädchen, dessen Mutter früh gestorben war, lebt beim Vater, der inzwischen eine Frau mit zwei Töchtern geheiratet hat. Das Mädchen muss nun alle Mägdedienste im Hause leisten, fegen, kochen und den Ofen putzen. Dort schläft sie auch, und alle nennen sie Aschenputtel. Als Prinz Ramiro auf Brautsuche in die Gegend kommt, drängen sich die Stiefschwestern vor, doch Ramiro verliebt sich in das gutherzige Mädchen, das er als unbekannte Schöne in wundervollem Kleid auf seinem Ball wiederfindet und schließlich den bösen Stiefschwestern vorzieht. Eine Fabel, die schon in allerlei Varianten auch bei Ägyptern und Chinesen seit dem 9. Jahrhundert überliefert und im europäischen Raum um 1697 von Charles Perrault aufgeschrieben wurde.
Perraults bekannte Märchenvorlage haben Gioachino Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti für La Cenerentola benutzt; hier gibt es nun keine böse Stiefmutter, sondern mit Don Magnifico einen Stiefvater, der eine vermögende Liaison für seine Töchter wittert und für die Oper eine weitere Buffo-Rolle ausfüllt. Angelinas auf dem Ball verlorener Schuh, am Ende ein wichtiges Wiedererkennungszeichen, wird durch einen Armreif ersetzt.
Im Herzen des früheren Augsburger Textilviertels, das von der ehemals bedeutenden Kammgarnspinnerei bebaut und durch deren Aufschwung im 19. Jahrhundert geprägt worden war und nun, bei offener Architektur und Erhalt zeitgenössischer Bausubstanz, Museen wie Büros und Wohnungen beherbergt, hat auch das Staatstheater während der Renovierung im innerstädtischen Großen Haus seine Ausweichspielstätte gefunden. Regisseur Manuel Schmitt und sein Team entschieden sich, die naheliegende Verknüpfung textiler Requisiten und Historien mit dem Märchenstoff auf die Bühne zu bringen: bereits in der Ouvertüre wird ein alter Webstuhl zum Blickfang, eine italienische Textilarbeiterin aus den 60er Jahren erzählt in Videoprojektion, wie sie nach Augsburg kam und mit Hunderten weiterer Gastarbeiterinnen in die Textilproduktion integriert wurde. In stummem Reigen mimen Weberinnen, in mausgrauen Kitteln auf bunten Koffern sitzend, emsig die stupiden Arbeitsabläufe an den Webmaschinen; das Motorische der früher mit Dampfkraft angetriebenen Maschinen meinte man sofort zu erkennen in Rossinis spritzig vergnüglichem Orchestersatz.
Ob man aus diesen sozialen Schicksalen weitere Fäden zu Rossinis Opernstoff hätte knüpfen sollen, mag man diskutieren. Dass Schmitt sich dann auf Ferrettis Textbuch konzentriert, tut der Erzählung der weiteren Geschichte gut. Dinah Ehm lässt Angelina im grauen Weberkittel weiterspielen; die Kostüme der Schwestern sind üppig in Farben und Formungen. Sogar im oft beschäftigten volltönenden Männerchor agieren einige Herren genussvoll aus wohlkleidend weiblicher Kostümierung. In Bernhard Siegls Bühnenbild dominieren meterweise Stoffbahnen und seitliche Streifenvorhänge, die mit geradezu eigener schwebender Choreographie zur quirlig aufgeheizten Bühnenatmosphäre beitragen.

Ekaterina Aleksandrova, bis 2023 Ensemblemitglied des Staatstheaters, füllte die vielseitige Rolle der Angelina perfekt aus; ihr variantenreiches Spiel ebenso wie ihr füllig weicher Mezzo wurden immer wieder durch Szenenapplaus gewürdigt. Dass sie in eigens gewebter aprikot-weißer, schwingender Abendrobe hinter großflächig mondäner Callas-Sonnenbrille schließlich das Herz des Prinzen erobert, gönnte man ihr gern. Der Stoff, aus dem ihre Träume waren: hier wurde er einmal wirklich kleidsam gewebt, und wirkungsvoll in den Koloraturen des „Una volta c’era un re” gefeiert.
Kleider machen Leute, Verkleidung macht oft überraschende Einblicke möglich: Ramiro tauscht seine gräfliche Erscheinung mit der seines Kammerdieners Dandini, um die Damenwelt aus sicherem Abstand prüfen zu können. Köstliche Verwechslungsmomente werden dadurch unausweichlich: Manuel Amati als Prinz und Nicola Ziccardi, beides Gäste in Folge von Erkrankungen im Ensemble, wussten den Rollentausch faszinierend komödiantisch auszukosten, ergänzten sich in stimmstarken Tenor- wie Basslagen hervorragend, machten Duette wie Zitto zitto, piano piano zu feingliedriger Vokalkunst.
Don Magnifico mit Clorinda sowie Tisbe und ihren berechnenden Wünschen: gerade auch in ihren Terzetten steigerten sich Shin Yeo, Olena Sloia und Luise von Garnier zu mitreißend barockem Slapstick und begeisternder vokaler Prägnanz: in der „Schuldenarie“ des Vaters wie anfangs der sorgenvollen Cavatine um seine Mädchen bei „Miei rampolli femminini”; rasant und luftig wirbelnd die Schwestern im glitzernden Koloraturgewebe von „Sventurata! mi credea”, herrlich im Wechsel der Eskapaden ihrer schrillen Überspanntheit.
Keine Nebenrolle für Avtandil Kaspeli: sein Philosoph Alidoro beriet und lenkte zurückhaltend das Liebesspiel, blieb mit schneidig markanter Bassfülle im Ohr. Zu Höhepunkten wurden die Ensembles gerade bei Quintetten und Sextetten wie das finale, dicht verknotete „Questo è un nodo avviluppato”.
In der trockenen Akustik der zum Opernhaus umgebauten Industriehalle, ohne wesentliche Vertiefung in einem Graben, hatte es das Orchester schwer, zu geschmeidiger Klangmischung zu finden. Ivan Demidov brachte trotzdem den ausgelassenen Esprit der Orchesterpartitur bestens zur Geltung, die Augsburger Philharmoniker erfreuten mit fröhlich schnatternden Fagotten, Flöten und Klarinetten sowie blitzsauberen Blecheinwürfen und gehaltvollem Streichermelos. Eine amüsante Realisierung von Rossinis Opernhit; früher machten die Augsburger Kleider, nun gilt: Kleider lassen Leute lachen!