Vielleicht geht es Ihnen genauso? Das entscheidende Faszinosum an sogenannter Alter Musik ist für mich, immer wieder Neues aus der Geschichte zu entdecken, sie sich in Kontexten bewusst zu machen und schließlich – in bestem Falle musikalisch anregend – zu hören. So erneut ergangen beim Abschlusskonzert des diesjährigen Festival Musical de Namur inmitten wallonischer Alte-Musik-Zelebrierung. Schließlich ist der Chœur de Chambre de Namur institutioneller Vokal-Dauerpartner beim Zutagefördern und Aufführen barocker Werke absoluten Seltenheitswerts, selbstverständlich in Kooperation mit „großem Bruder“ in französischem Versailles.

Marie-Andrée Bouchard-Lesieur © Alexandra Syskova
Marie-Andrée Bouchard-Lesieur
© Alexandra Syskova

Diesmal – durch multitaskenden Tenor und Dirigenten Reinoud Van Mechelen und seinem Ensemble a nocte temporis – François Joseph Salomons erster Oper Medée et Jason, 1713 in Paris premiert, 1727 überarbeitet und 1736 neu adaptiert, in letzterer Version 1991 modern herausgebracht durch die amerikanische Pendragon Press. Lediglich Auszüge daraus erklangen 2023 in Versailles beziehungsweise letztes Jahr in Namur in Form einer Parodie auf dieses Stück sowie auf jene Marc-Antoine Charpentiers und Kollegen mit Louis-Noël Bestions Les Surprises. Unbeachteter dessen war es sogar 2021 Marie-Louise Duthoit im französischen Toulon gelungen, allein Salomons Oper neuzeitlich in Ausschnitten aus der Taufe zu heben. Am provençalischen Geburtsort des 1649 auf die Welt gekommenen Salomon, der Organist, Cembalist und Gambist, ab 1679 solcher der Königin, später Mitglied der Kammermusik in Versailles, ihm jedoch bei der Konkurrenz am Hofe höherer Posten verwehrt wurde.

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Reinoud Van Mechelen
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Salomons Fünfakter stellt in Ausschmückung Abbé Simon-Joseph Pellegrins die Komprimierung der berüchtigten Antiktragödie bis zu Medeas Mord an den eigenen Söhnen, Iasons Geliebter Kreusa und deren Vater, dem korinthischen König Kreon, dar. In ihm frühstückt der Librettist im Angesicht der Eskalation umso aufreibenderen Setting arkadisch-friedenssehnlicher Korinther ausgängliche Scheidung zwischen Medea und Iason, dessen ruhmreiche Zukunft nach dem Sieg über die Athener sowie die neue Liebesbeziehung zu Kreusa ab, die Medea zu vernichtender Wut schäumen lässt. Dabei befindet sich Kreusa in einem Delirium, in dem sie bereits das Schicksal ihren Lauf nehmen sieht, ohne ihrem Vater und Lebensgefährten, mit dem sie durch einen vermeintlich allerletzten Mediations-, besser Erpressungsversuch mit Medea vor der Katastrophe in Konflikt gerät, davon erzählen zu können.

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Mélissa Petit
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Ich kann und darf dagegen erzählen, dass mit der Darbietung ein großer Erfolg gelang, von dem theatralisch intensive, dichte Dialoge mit beeindruckenden Stimmen und ein instrumentales Engagement voller Herzblut zeugten. Einmal mehr wurde Van Mechelen dabei seinem Ruf gerecht, mit ausdrucksstarker Rhetorik und breitem, kontrastgeladenem Umfang alle emotional-dramatischen Register zu ziehen, um den Zuhörer vom existenziellen Verlauf eines Helden zum Unglücksraben grausamen Ausmaßes zu fesseln. Mit solch vollem Einsatz zur wirkenden wie zweifellos werkpassenden Besessenheit, Salomon eigenem bisherigen Schicksal zu entziehen, animierte er auch händewirbelnd- oder vorturnenderweise, jedenfalls mit ausschweifender Geste beider Arme und ganzer Bewegung seines Oberkörpers a nocte temporis, das die barocküblichen, mit Zauber, Erscheinen und mythologischem Gefühl einhergehenden Wetterregungen, die handlungs(ein)leitenden oder umgebenden Klänge von Liebesgarten und kriegerischem Lärm sowie die Tanzdivertissements und Orchester-Airs kräftig und elegant ausformte.

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Reinoud Van Mechelen und Marie-Andrée Bouchard-Lesieur mit a nocte temporis
© Alexandra Syskova

Selbst wenn zweimal das minimale Auseinanderfallen punktgenauen Zusammenspiels drohte, hatten Van Mechelen und Ensemble das sofort im Griff, so wie Kultpaukistin Marie-Ange Petit insgesamt ihre stimmungsfreudige perkussive Mischbatterie aus Kesseln, Militärtrommeln, Tambourin, Windmacher, Glöckchen und (erst kurz zum Finale) Donnerblech. Von professionell bester Seite, insbesondere in galanter Gewandtheit, zeigte sich zudem wieder der Chœur de Chambre, aus dem rollensolistisch teils erstklassige Mitglieder kamen, allen voran Bariton Samuel Namotte als Iason-Vertrauter Arcas sowie Sopran Virginie Thomas und Tenor Maxime Melnik als Amour und Paix individuell anmahnende Korinther.

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Médée et Jason
© Alexandra Syskova

Als Mahnerin betätigt sich in der Story auch Nérine, die schlimmsten Auswüchse Medeas Rachefeldzugs noch zu verhindern. Die eingeschüchtert-besorgte Figur wusste dafür in Lore Binon einen Sopran von extremst warmer, angenehmer und klarer Qualität, der zugleich Melpomène im Künste und Spiele feiernden Prolog die Stimme lieh. Er komplimentierte den bombig inbrünstigen, temperamentfülligen, beinahe die stilistischen Grenzen sprengenden Médée-Mezzo Marie-Andrée Bouchard-Lesieurs, vor dessen Rage und Entschlossenheit tatsächlich kein Entkommen war. So auch nicht bei Créon in Person des bereits bei Duthoit mitsingenden Cyril Costanzo, der sich, seinem Volk und Landstrich die Verwüsterin durch profunden, sonoren, beherzten Bass (ebenfalls als Apollon im Prolog) vom Leib zu halten versuchte. Übertrug Mélissa Petit Créuses vor Augen erschienene Verdammnis und Haderei mit phrasierungs-, affekt-, diktions- und timbreästhethischem Sopran gleichsam überzeugend wie einnehmend, tat dies Annelies Van Gramberens wollweiß-warme Stimmlage als Europa und Cléone.

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