Neben den großen Bühnenwerken Rameaus gehen bei der NTR ZaterdagMatinee natürlich auch die Vorstellungen italienischer Barockopern in der Saison weiter – was bei aller Individualität der neuen künstlerischen Leitung der niederländischen Rundfunkinstitution zu hoffen bleibt, wenn der im Streit zurückgetretene Direktor Kees Vlaardingerbroek nicht mehr für die Programme verantwortlich zeichnet. Während Andrea Marcon in seiner mittlerweile jährlichen Vivaldi-Wiederkehr im Februar ein Intermezzo mit Graupner einlegen und Händels Tolomeo diesmal nicht von der üblichen Parnassus-Produktion, sondern dem Kammerorchester Basel kommen wird, liegt mit der Musik Alessandro Scarlattis ein bisher weiterer zwingender Dauergast auf den Pulten.

Les Accents © Philippe Matsas
Les Accents
© Philippe Matsas

Schließlich gibt es bei Scarlatti mit 114 Opern noch viel zu entdecken, nachdem seine Nr. 109 (Telemaco) mit Marcello di Lisa, zuvor erstmals von Franziska Schnoor für Thomas Hengelbrock eingerichtet, in der vergangenen Spielzeit präsentiert wurde. Dem hat sich besonders katalogisch Thibault Noally verschrieben, der als Konzertmeister Marc Minkowskis Les Musiciens du Louvre dafür sein gemeinsam mit Kollegen befülltes eigenes Ensemble Les Accents von dieser Instrumentenposition aus leitet. An der Reihe war dabei nun wieder – für die Niederlande eine Weltpremiere – die mit üblichen Kürzungen und zum kleinen Teil abweichenden Stimmfachbesetzungen eingerichtete Partitur zu Il Mitridate Eupatore, die Noally zuletzt 2017 in Beaune aufführte, dem Ort des Gründungskonzerts seiner Gruppe im Jahr 2014.

Wie später generell bei Rameau und zuvor in französischer Barockoper nach einer klassischen Tragödie aufgebaut, ist auch Scarlattis Stück im Kontrast zur italienischen Dreiaktigkeit in fünf Aufzügen und mit stets ernst-moralisierendem Personal gar ohne richtiges lieto fine konzipiert. Ein Versuch von Librettist Girolamo Frigimelica-Roberti zur Belebung der örtlichen Tradition, der zur Eröffnung der Opernsaison 1707 damit so gehörig scheiterte, dass Scarlatti keinen Auftrag mehr aus Venedig erhalten sollte. Im Premierenpublikum von damals saß übrigens Händel, doch wie dieser selbst den Mitridate fand (ein Schreiber urteilte „süß und einschläfernd“), ist nicht überliefert.

Alles andere als ermüdend stellte sich für mich als heutiger Berichterstatter die Version und Ausführung Noallys mit 28 Arien, vier Duetten, zwei Chören und sechs Sinfonia-Sätzen dar, von denen insgesamt nur neun langsameren Tempos waren. In jenen leicht gemäßigteren Beispielen, wie immer monologisches Lamento-Sinnieren über Liebe und mit Suizidkonsequenz garnierte Entscheidungen, zeigten sich Les Accents von etwas samtigerer, stets aromatischer Seite, zogen doch sonst alle Musiker in den äußerst fixen, auch durch die attacca-Verbindungen mit wirklich vitalem, balancemäßig mitunter etwas zu kraftstrotzendem Continuo, rastlosen Rachegelüsten hervorragend straff-theatralisch mit, bissig und knackig, tadellos koordiniert an einem Strang sowie stürmisch durch die Notierungen. Kleinste Intonationstrübungen hatte Noally allein in seinen Solokadenzen zur Arie direkt nach der Pause, als er das einzige Mal seitlich stand, kehrte er dem Publikum mit der Geige im mitspielenden Anschlag den Rücken zu. Prächtig erfüllten sowohl die beiden Trompeten ihren Dienst als auch die Solooboe Thimotée Oudinots.

Jene postpausale Auftaktarie war diejenige, in der Stratonica, Königin von Pontus, ihren Sohn über die Wupper gehen ließe. Ihren Mann, Mitridate Evergete, hatte sie schon unter die Erde schaffen lassen. Und zwar von ihrem Lover Farnace, der sich als neuer Männe den Thron sicherte und den rechtmäßigen Erben Mitridate junior in die benachbarte Wüste schickte. Nach Ägypten, von wo aus sich der Prinz mit seiner Gattin Issicratea aufmacht, die Macht zurückzuerobern. Dafür geben sie sich als ägyptische Botschafter Eupatore und Antigono aus, die hinterrücks ihres Staatschefs und damit vordergründig Landesverrat wie Mord begehend den beiden Über-Leichen-Gehern Mama und Stiefvater Kaltblut den Deal vorschlagen, Mitridates Kopf zu überreichen, wenn Ägypten dafür Ruhe und Frieden in bisweilen nachbarschaftlichen Kampfhandlungen erlangt. Am Ende sieht Stratonica allerdings Farnaces Schädel aufgespießt, bevor auch sie das Schwert durchbohrt. Von Erb- und Mutterschleicherei, Vatertod, Exil, Plan, Verkleidung und eigenem Schicksal mit zwangsverheiratetem, plastisch liebendem, aber ihr beistehendem Nicomede – kurz, der Gesamtsituation im Familiendrama – überfordert ist Laonice, die Schwester Mitridates.

Diese Schwester hat also einiges zu ertragen und auch einiges zu singen. In dem mit den Stars der Szene gespickten Cast tat das Julia Lezhneva in bekannt sportlicher Koloraturschäumerei auf beherzt-reflexartiger Sopranton- und ein wenig unverständlicherer Sprachspur. Es mag vielleicht klingen, wie das Haar in der Suppe zu suchen, doch störte mich dabei im nach wie vor faszinierenden Wahrnehmen ihrer trotz stärkerer Atemunterbrechungen mit wahnwitziger Leichtigkeit genommenen Sprudelqualität, dass Lezhnevas ausschweifende Kadenzen oder Ausreißer sowie manch einschmierendes Artikulieren Linie und Ensembleaufgehobenheit ein wenig torpedierten. Laonices aufgedrungene „bessere Hälfte“ legte sich in wörtlich genommener Bedeutung der Ehe-Beschreibung mit sensationeller Technik und Deutlichkeit Sophie Rennerts ins Zeug.

Erwies sich Victor Sicard als einmal mehr sehr klarer, beweglicher, fast tenoral wirkender Bariton mit italienisch ansummendem, angenehmem Timbre, der Farnaces Ansporn der Thronsicherung mit eisernem Blick verfolgte, brachte auch Vivica Genaux als wirbelnde, wackelnde, emotional abgeklärt-griffige Eiskönigin ihre PS auf die Straße. Mit deklamatorisch beredtem und entschlossenem Schwung sowie ausfüllend dunklerem Alt machte Anthea Pichanick Antigono wahrhaftig als wünschenswertester Partner in Crime und Liebesbekundende alle Ehre, für die man den Angehimmelten so beneiden konnte wie Paul-Antoine Bénos-Dijan für seine tatsächlich gesanglichen Countertenor-Qualitäten eines heldenhaften, voluminös-galanten, wärmenden, virtuosen, phrasierungsfärbenden, bebend-strahlenden, affekt-patriotischen Mitridate Eupatore.

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