Das groß besetzte Orchesterwerk Silhouetten des niederländischen Komponisten und Pianisten Leo Smit wurde 1925 vom Concertgebouw Orchester uraufgeführt. Smit verbrachte seine letzten Jahre als erfolgreicher Komponist und Lehrer in Amsterdam. Er wurde dort 1943 zusammen mit seiner Frau durch die Nazis in das Todeslager Sobibor deportiert und dort am 30. April 1943 ermordet.

Probenfoto mit Bas Wiegers und dem Concertgebouw Orchester © Eduardus Lee
Probenfoto mit Bas Wiegers und dem Concertgebouw Orchester
© Eduardus Lee

„Nach Zeichnungen von Paul Süss", schrieb Smit auf die Entwurfsfassung von Silhouetten. Die sechs fantasievollen Miniaturen haben Titel die auch Süss, ein relativ unbekannten Künstler aus München, für eine Reihe von Postkarten mit dem Titel Tanz verwendet hat. Lange Zeit galten diese als verschollen. Erst als sich Dirigent Stéphane Denève 2016 in Vorbereitung auf die damalige Aufführung mit dem KCO nochmals auf die Suche nach Smits Inspirationsquelle begab, wurden diese entdeckt.

Die hervorragende gestrige Aufführung unter dem klaren begeisternden Dirigat von Bas Wiegers stellte Smits große musikalische Fantasie und sein bemerkenswertes Talent für die Orchestrierung (mit u.a. neun Schlagzeugern) überzeugend unter Beweis. Großformatige Fotos der Scherenschnitte mit leicht bekleideten tanzenden Frauen wurden zugleich mit den Titeln auf Bildschirme über dem Orchester projektiert. Leider fehlte ein erklärender Begleittext, was zu fragenden Gesichtern führte bei all denjenigen, die sich vor Beginn des Konzerts nicht sorgfältig eingelesen hatten.

Für Beifallsstürme sorgte nach der Pause die Anwesenheit des heute 93-jährigen niederländischen Komponisten Theo Loevendie. Neben seinem Jazz-Hintergrund hat Loevendie große Affinität zu nicht-westlicher, im Besonderen zu türkischer Musik. In Six Turkish Folk Poems (1977) verwendete er sowohl türkische Tonleitern und Polyrhythmen. „Die Texte sind keine höhere Literatur, sie sind Volksdichtung, farbenfrohe und poetische Beschreibungen von Szenen aus dem täglichen Leben”. Der ursprünglich für sieben Instrumente komponierte Liedzyklus wurde in einem vom KCO in Auftrag gegebenen neuen Orchesterarrangement gespielt. Loevendie hatte die Bearbeitung mit Hilfe seines ehemaligen Schülers Wilbert Bulsink vollendet und dabei aus dem Vollen (u.a. sieben Schlagzeuger) geschöpft. Lovendie: „Seit 1977 habe ich eine große technische und stilistische Entwicklung durchgemacht. Aber ich habe mich wieder in die Partitur vertieft, und das Tolle ist, dass ich mich immer noch voll und ganz mit ihr identifizieren kann! Es ist ein sehr persönliches Stück - ein Teil von dir ändert sich scheinbar nicht.”

Mezzosopran Polly Leech, die zwei Jahre Mitglied des Studios der Niederländischen Nationaloper war, hatte die undankbare Aufgabe, ihren Gesangspart mit dem türkischem Orginaltext gegen die neue farbenfrohe, wunderlich skurrile Orchesterfassung durchzusetzen, was ihr leider nur in den oberen Registern ihrer klar und sicher tragenden Stimme gelang.

1979 komponierte Loevendie anlässlich des 90-jährigen Bestehens des Concertgebouw Orchesters sein Werk Flexio. Leider hatte sich das KCO entschieden dieses Werk nur am zweiten Abend dieser Aufführungsreihe aufzuführen.

Am gestrigen Abend stand stattdessen Ravels erste große Orchesterkomposition Shéhérazade auf dem Programm. Wie auch in Rimski-Korsakows berühmter Suite beschwört Ravels Shéhérazade orientalische Geschichten von Schwelgerei, Perversität, Tod und Gefahr. Die Texte stammen von Tristan Klingsor (Léon Leclère). Das erste Gedicht Asie beginnt mit einem gedämpften Streichern, gefolgt von einer mäandernden Oboenmelodie, die eine verführerisch fantasievolle orientalische Atmosphäre aufruft. Die ersten vier Gedichtzeilen werden syllabisch und rezitativisch deklamiert („Asien, Asien, Asien / wunderbares altes Land der Kindermärchen / wo die Phantasie schläft wie eine Kaiserin / in ihrem Wald voller Geheimnisse”). Pentatonische Skalen, Bläserverzierungen und flatternde Streichertremoli verleihen diesem Orchesterlied eine schaurige Dekadenz. Solohornist Laurens Woudenberg spannte sein Solo wunderbar mit langem Atem bis ins faktisch Unhörbare. Leech sang den wohlklingenden französischen Text makellos, wurde aber erst im erotisierend verführerischen letzten Lied L'indifférent zu einer wirklich überzeugenden Interpretin dieser vielschichtig emotionalen Musik.

Vor genau 100 Jahren dirigierte Maurice Ravel seine Orchestersuite Ma mère l'Oye mit dem Concertgebouw Orchester in Amsterdam. In der klangreichen Bearbeitung seiner Klavierkomposition zu vier Händen demonstriert Ravel seine Meisterschaft im Umgang mit Orchesterfarben. In Pavane de la Belle au bois dormant bezaubert die Flöte mit einem magischen Solo, in Petit Poucet überzeugen Oboe und Englischhorn gleichermaßen empfindsam mit ihren sinnlichen Melodien.

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