Bevor María Martínez Ayerza mit ihrem 18. Geburtstag in die Niederlande zog, wo sie später durch Paul Leenhouts zum Amsterdamer Blockflötenensemble The Royal Wind Music kommen sollte, hatte sie ihre Konservatoriumsausbildung in Sevilla begonnen. Ihrer Studentenstadt, genauer gesagt einem ihrer Wahrzeichen, der Kathedrale Santa María de la Sede, größte gotische Kirche Spaniens und drittgrößte ihrer Art Europas, widmete sie schließlich vor ein paar Jahren als Arrangeurin für die RWM ein eigenes Programm mit spanischer Renaissancemusik etwa um die Zeit des Siglo de Oro, von der einzelne Stücke – zum Beispiel aus Cancioneros (Sammlungen) – schon ein wenig relative Verbreitung in neuzeitlicher Rezeption gefunden hatten. Und damit eine musikalisch-historische Führung, deren Ausgangspunkt und Titel der Orangenhof der Kirchenanlage bildet. Auf sie konnte und musste man beim Festival Oude Muziek Utrecht, selbst Heimat des höchsten Kirchturms der Niederlande, stoßen, das seine Edition unter jenes Motto „Sevilla“ stellte.

The Royal Wind Music © Foppe Schut
The Royal Wind Music
© Foppe Schut

Dass auf dem Grund der Kathedrale vormals eine maurische Moschee stand, die im besagten Binnenhof und dem imposanten Glockenturm La Giralda ihre Überbleibsel findet, erinnerte die RWM im siebenteiligen Programm zunächst mit der spirituellen marokkanisch-andalusischen Improvisation Istijbar Raml-al-Maya, für tiefes Tutticonsort gesetzt, aus deren Grundton sich im europäischen Gewand das anonym komponierte Propiñan del melyor mit beherzter Wärme und Einkehr der mittelstimmigen und tiefen Hölzer sowie den fruchtigen Spritzern der Sopranino aufbaute. Noch bevor sich der Blick gen Turm richtete, lugte man mit Francisco Guerreros geistlicher, meditativ-weicher Canzon Virgo prudentissima, nun für ein Bassconsort à 4, sowie einem im feierlichen Gestus und vom sonoren Tutti gepriesenen Regina caeli Cristóbal de Morales‘ ins Kirchenrauminnere, nämlich den Marienaltar. Den Turm symbolisierten dann Juan Vásquez‘ „¿Qué razón podéis tener?“ und „Morenica me era yo“ aus den Recopilaicios de sonetos y villancicos nebst zwei Beispielen Miguel de Fuenllanas Orphenica Lyra.

Während Vásquez‘ erster, fünfstimmiger Villancico im (Kontra-)Bassconsort dabei wirklich dem Sinnfragenden Affekt verlieh, gab RWMs Tutti von Alt bis Subkontrabass im zweiten, neckischen Beispiel Ausdruck von fröhlich-erfahrener, vertröstender Hoffnung aus den (Über-)Höhen des Himmels. Mit den beiden, recht hingebungsvollen Quartetten Fuenllanas Tiento del IV tono und Fantasia número 34 strahlten Alt beziehungsweise Tenor über den Registerdurchläufen der Bässe, bei denen in letzterem ein ganz kurzes treppenstufiges Aus-dem-Tritt-Sein eine – freilich hier unintendierte – Runde im Kopf drehte. Apropos Runde, versammelten sich die elf RWM-Mitglieder vor Guerreros Totenmesssatz In elevatione Domini: Hei mihi, Domine bei Pedro de Escobars „Agnus Dei“ seinerseitiger Missa pro defunctis zu einem Kreis des erhabenen Andenkens, für das Martínez Ayerza in der Kapelle Virgen de la Antigua die persönlichen, grabrednerischen Gebetsworte mit der Tenorblockflöte sprach. Drittes, aufeinander eingehendes Verweilbeispiel steuerte die tiefste Basssektion mit vor ihr diminuierend-improvisierenden Irene Sorozábal Moreno und Marco Magalhães durch Francisco Perazas Medio registro alto de primo tono bei, ehe es hinter den Chorraum Sevillas Kathedrale ging.

Dort setzte zunächst ein inniger Pues con sobra de tristura Enriques das Setting für das streng Ritualhafte, das weltlich und eindeutig mehrdeutig „ketzerisch“-aufgeklärt, folglich in ganzer Breite von Sopranino bis Subkontrabass aufgelockert wurde vom anonymen Villancico Niña y viña, zu dem neben bestechender Phrasierung temperamentbedingt nicht fehlen dürfendes rhythmisches Klapsen auf das Instrumenten- und finaler Fußstampf auf das Podestholz gehörten. Mit der stärkend und gleichzeitig thronenden Gallarda Alonso de Mudarras blies Anna Stegmann mit Ensemble in ähnliches Horn der Vorstellung und damit entspringender Gedanken zum Treiben im Kapitelhaus, von dem aus der Weg zum Altarraum führte. Hier wurde zum einen mit Alonso Lobos Vivit ego, dicit Dominus, zum anderen mit Francisco de Peñalosas Agnus Dei III eine rahmende Besinnlichkeit konstruiert, die nach außen gestellt werden und manch Gläubigen die innere Melodie von Reflexion, Ehrfurcht und daseiniger Demut spielen soll. The Royal Wind Music inspirierte und beeindruckte dabei wie Sevillas staunenswertes Bauwerk. 

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