Wer sich in Berlin mit Freunden zu einer Aufführung von La traviata verabredet, sollte nicht versäumen, den Namen des Opernhauses anzufügen, denn diesen Verdi-Bestseller gibt es an allen drei Häusern, an der Deutschen, der Komischen und der Staatsoper im Schillertheater. Dabei musste Intendant Jürgen Flimm von den beiden anderen Inszenierungen wissen. Dennoch entschied er sich, seinen langjährigen Freund Dieter Dorn mit einer dritten Fassung zu beauftragen. Das ist Beweis für Abstimmung oder vielmehr Kalkül für einen Publikumserfolg, der mit dem großen italienischen Angebot, auch mit einem weniger oft gespielten Verdi, sicher auch anders zu erzielen gewesen wäre. Anders gefragt: Muss die Komische Oper mit ihrem reichen Angebot unbedingt diese Tragödie präsentieren?

Die Inszenierung der Traviata durch den langjährigen, mittlerweile achtzigjährigen, so erfolgreichen Chef der Münchner Kammerspiele ist eher konservativ. Dorn lässt die Geschichte ohne Pause mit einem Bühnenbild erzählen, das von einem Spiegelkubus beherrscht wird, in dem eine Menschengruppe von acht Darstellern einen Totenkopf bildet. Dessen Akteure zeigen sich in eng anliegenden, grauen Vollkörpertrikots zwischendurch und zum Finale als Todesboten. Als Dekoration stehen ein kleiner Anrichtetisch und zwei Stühle zur Verfügung, auf denen sich die Sänger über längere Passagen niederlassen und Duette auf Distanz absolvieren.

Dies ist das größte Manko des Abends. Es mangelt an Interaktion, an Zuwendung, am Miteinander. Stattdessen wird viel an der Rampe gesungen als handle es sich um eine konzertante Aufführung vor einem Bühnenbild. Dieter Dorn, dessen Kammerspiele nur ein paar hundert Meter von der Münchner Staatsoper entfernt sind, hatte zuvor mitgeteilt, er hatte die Traviata noch nie gesehen. Das vermag einem Regisseur einen unvoreingenommen Blick bewahren, hier jedoch wäre eine optische Vorkenntnis von Vorteil gewesen. Die Oper ohne Pause vor einem kaum variablen Bühnenbild spielen zu lassen setzt vom Zuschauer eine sehr genaue Kenntnis des Werkes voraus.

Hinzukam eine Enttäuschung für die Besucher am 27. Dezember. Ursprünglich war nach der Premiere auch für diesen Abend der hoch gelobte neue Star Sonya Yoncheva angekündigt, die neue Netrebko, zumindest deren Konkurrentin oder Nachfolgerin, im vergangenen Jahr auf den wichtigsten Bühnen der Welt zu Hause und überall mit Jubel gefeiert. An ihrer Stelle stand nun der Name von Nadine Koutcher auf dem Programmzettel. Dazu kam, das der Part des Alfredo wegen Erkältung nicht von Abdella Nasri sondern von Eric Cutler übernommen wurde. Keine guten Vorzeichen, meint man.

Dennoch wurde die Aufführung unter Leitung von Daniel Barenboim bei aller Improvisation zu einem überraschenden musikalischen Erlebnis. Nadine Koutcher war in der Rolle der Violetta stimmlich herausragend, ausdrucksstark, in den Höhen souverän. Das bedarf der Erklärung. Barenboim forcierte das Orchester auch diesmal, gab Verdi einen Wagner'schen Klang und zwang so Solisten und Chor in Kraftanstrengungen, die Differenzierungen unterdrücken. Er bändigte das Ganze wie gewohnt meisterhaft zusammen, nahm ihm aber das Italienische. Eric Catler, über Nacht nach Berlin gerufen, ein hochgewachsener kräftiger Alfredo, vom Land in die Stadt verschlagen, verfällt Violetta mit bedingungsloser Leidenschaft. Seine Stimme hoch dramatisch – so auch er ein unerwarteter Gewinn für diese Aufführung.

In der Rolle des Vaters Giorgio Germont war Simone Piazzola reich an Nuancen zwischen dem Wunsch, seinen Sohn zur Familie zurückzuholen und der Erkenntnis von einer kompromisslosen Liebe zwischen Violetta und Alfredo. Piazzola war der „italienischste“ Sänger in diesem hoch respektablen Ensemble. Zuhörer, überwältigt vom so ungewöhnlichen Abend, lohnten mit lang anhaltenden Ovationen – auch für Daniel Barenboim, der die Staatskapelle auf die Bühne holte. Er ist ohnehin immer der unumstrittene Star in der Staatsoper im Schillertheater an der Bismarckstraße.

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