Wie Bachs Weihnachtsmessen in Leipzig, vor allem in späteren Jahren, genau musikprogrammatisch abliefen, ist ungewiss. Daher bemüßigt man sich Gedankenspielen und Erklärungsansätzen, die die bekannten Punkte der Liturgie, adventlichen und weihnachtlichen Gepflogenheiten sowie vorhandenen Werke für den Anlass einbeziehen, um dadurch – freilich recht vielfältig und ungebunden – zu einem möglichen Abbild zu gelangen. So auch Paul McCreesh, der beim Blick auf seine künstlerische, editorische und diskografische Arbeit mit seinen Ensembles, Gabrieli Consort & Players, berüchtigt ist für solch „liturgische Rekonstruktionen“. Im Gegensatz zur Weihnachtsgeschichte kein Wunder, dass die Wigmore Hall ihre Reihe „Liturgical Feasts“ daher McCreesh und seiner Gruppe anvertraut hat, die nun vor den Festtagen eine Lutherische Messe und zwei Kantaten Bachs zur Geburt Jesu auf die Agenda nahm.

Beide Kantaten waren originäre Weihnachtskantaten, wobei sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Mit Süßer Trost, mein Jesus kömmt, uraufgeführt 1725, hielt der besinnliche, warme Klang der Hirten Einzug, den William Whitehead mit dem zweiten Satz der Orgel-Pastorale (BWV590) an seinem Positiv vorgegeben und Katy Bircher an der Traversflöte nahtlos einfühlsam aufgegriffen hatte, um die freudige Gelassenheit und erlösende Entspannung der einleitenden Sopranarie zum vorherrschenden Gefühl der Kantate zu formen. Dass diese und der Abend in Gänze überhaupt hörbar waren, war Daniel Norman zu verdanken, der in letzter Minute den eingeplanten und eingübten Tenor Jeremy Budd wegen dessen positiven Covid-19-Tests ersetzt hatte. Obwohl er stimmlich und artikulatorisch wahrlich keine Idealbesetzung für den Part war und ich deshalb unter diesem Aspekt nicht zu hart ins Gericht gehen möchte, lässt sich der durch unveränderte Sopranbesetzung Rowan Pierce bestehende Kritikpunkt nicht unterschlagen. Denn ihr bereits zum Ansatz herausquillendes, ständiges Vibrato auf ihrem an sich strahlend-lieblichen, angenehmen Timbre bereitete nicht nur stilistisch-ästhetisch ein Weniger an durchgängig besagtem barock-weihnachtlichem Flair, sondern verunmöglichte leider homogene Chöre. Ausdrucksstark ansprechender gestaltete Bass Morgan Pearse sein Rezitativ, noch stilsicherer Mezzo Anna Harvey mit ihrem dunklen Altregister das flüssige, erwartungsfrohe „In Jesu Demut kann ich Trost“, begleitet von der bestechenden Anmut der Oboe d'amore Christopher Palametas.
Bevor die Missa brevis in G als Mittelpunkt erklang, die durchaus Weihnachten in Leipzig aufgeführt worden sein dürfte, ist das lateinische Stück doch höchsten Festtagen vorbehalten gewesen, baute McCreesh erneut ein Vorspiel ein. Eine Sinfonia, diesmal jene der Kantate BWV169. Es ist wiederum ein Orgelkonzertsatz, den Whitehead und die Gabrieli Players in größtmöglich wohltuender, sprudelnder, interagierender Meisterhaftigkeit wie am Schnürchen zu Gehör brachten. Danach steckte vor allem das „Gloria“ der Messe mit seinen überschäumenden Streichern und Vokalen mit einem alle adventliche Beschränkung ausmottenden Umherspringen der Herzen an, genauso wie das generell tänzerisch Beschwingte des finalen „Cum santo spiritu“, selbst wenn vorherige „Aufführungskrankheiten“ bestehen blieben. Auch Pierce und Harvey ergänzten sich in ihrem Eleganz und Ernst verleihenden „Domine Deus“ besser, allerdings überraschte Pearse innerhalb seines leichtgängigen, kräftigen Bass-Gratias mit einem Wechsel zwischen deutscher und italienischer Aussprache.
Mit der mit vier Trompeten besetzten, ältesten Weihnachtskantate Christen, ätzet diesen Tag hob McCreesh dagegen den maximal schillernden Kontrastentwurf zum Fest- und Konzertbeginn heraus. Bach hatte sie 1713 oder die Jahre darauf geschrieben, beim ersten Weihnachtsdienst in Leipzig 1723 aber wiederaufgeführt. Gemeinsam mit dem Lutherlied Vom Himmel hoch, da komm ich her, das er als eine von vier Einlagen für das dazu erstmals gespielte Magnificat wählte und McCreesh durch Organist Whitehead in Entsprechung abendlich instrumentierten Ablaufs als fughettiertes Choralvorspiel virtuos anstimmen ließ. Die Gabrieli Players füllten nun die Bühne komplett aus und schlugen mit dem Solisten-Consort dem Text gemäß entschlossen die prächtige Dankauffahrt zur Geburt des Heilands an. Bekamen die (historisch genauen) bohrlochlosen Naturtrompeten bei all meinem sonstigen Verständnis und Respekt dabei nicht allzu viele saubere Töne heraus, stimmten Harvey, das typische Sopran-Bass-Duett zur Hochzeit von gläubiger Seele und Christus, Pearses inbrünstiges Rezitativ und letztlich der noch gerettete Schlusschor weihnachtlich und feierlich angemessen versöhnlich.
Die Vorstellung wurde vom Livestream der Wigmore Hall rezensiert.