Drei Jahre geht Rachel Podger in ihrem Festival Brecon Baroque auf einen Walk with Bach, bei dem sich dem Schaffen des berühmtesten Bachs durch einen Blick in dessen Verwandtschaft, Karriere und Bibliothek und damit Vorbilder, Bezüge und Bekannte umfassend genähert werden soll. Zurückgreifen kann die Festivalmacherin, Solistin und Konzertmeisterin Podger dafür selbst auf Familie und eben gute Bekannte, einerseits natürlich auf ihr orchestrales Ensemble mit gleichnamigem Fest-Titel mit einer Reihe von Freunden und Wegbegleitern, dann auf ihren Bruder Julian, der das Gesangsconsort Trinity Baroque leitet, und andererseits auf musikalische Kollegen wie Richard Boothbys Fretwork.
Der Startschuss ertönte dabei in Shaping the Baroque mit einem Gang zu Dietrich Buxtehude (Johann Sebastian machte sich 1705 ja zu Fuß auf nach Lübeck, um den Meister zu erleben und bei ihm in eine urlaubsüberschreitende Kurzlehre zu gehen) und Heinrich Schütz (dem Vater der deutschen, protestantischen Vokalmusik). Und direkt danach folgte in Mostly Johann – hier war der Dietrich nochmal eine Ausnahme – ein mit der Spur an Titelwitz versehenes Hineinlinsen in den engeren Kosmos Bachs, dessen kompositorisches Rüstzeug mit den Namensbrüdern Kerll, Cousin Bernhard dem Älteren, seinem noch entfernteren Meiniger Verwandten Ludwig sowie den Schülern Goldberg und Krebs vor- und nachhallte.
Bei den Online-Aufzeichnungen hallte dafür im technisch wahrsten Sinne des Wortes zum Glück nichts, so gestochen scharf war die vorzügliche Aussteuerung, die suggerierte, man säße isoliert von akustischen Eigenheiten der Kathedrale oder schmuckloseren Theaterbühne direkt auf dem Schoß der Musiker in ihrem Kontinuum von rhythmischer und diktionsgewandter Einprägsamkeit. In Shaping the Baroque kreierten die Podgers ihre eigene Abendmusik, als sie Buxtehudes Passionskantatenzyklus Membra Jesu Nostri in den Mittelpunkt des Programms stellten, eingeleitet von der Schütz-Motette O Bone Jesu und Chorälen desselben, Nikolaus Selneckers und Choralvorspielen von Johann Sebastian Bach, die einen in ihrem congregationalen Futteral in den transparenten Mantel von Geborgenheit, Natürlichkeit und Humanität hüllten. Auch wenn Buxtehudes Kantaten 1680 wohl nicht zu den Lübecker Abendmusiken an ihren fünf Sonntagen vor Weihnachten präsentiert wurden, die der Komponist zur Freude der Kaufmannschaft und des Rates der Stadt von seinem Amtsvorgänger und Schwiegervater Franz Tunder als erste deutsche kirchenmusikalische Konzertreihen-Institution außerhalb des Gottesdienstes übernahm und ausbaute, bildeten sie neben dem Tastenspiel doch den Anziehungspunkt weit über die Grenzen hinaus.
Keine Grenze gibt es dabei für mich, die sieben – ebenfalls verlässlich anziehenden – Kantaten in ihrer stilistischen Concerto-Aria-Form mit Texten der Rhythmica Oratio und lateinischen Osiander-Bibel innerlich und äußerlich stark bewegt und bewegend aufzunehmen. Umso mehr, je einfühlsamer und schier herrlicher wie bei Brecon und Trinity Baroque sowie – ausschließlich besetzt in Kantate VI – mit dem traditionell für intime Klänge verwendeten fünfstimmigen Gambenconsort (Fretwork) die Leidensmeditation das pochende Herz und den Geist berührt. Fiel Dirigent Podger zwar ausgerechnet mit deutlichen Schwierigkeiten in der Höhe seines angerauten Tenors auf, studierte er in explizit deutscher Aussprache Buxtehudes unstreitig schönsten Schatz des gesamten Hochbarocks mit seinen neun Gesangspartnern im Tutti (für die Zahlenmystiker: also die doppelt fünfstimmige Vokalcapella in den Kantaten mit mindestens jeweils fünf zehnteiligen Strophen) so ein, dass die Wunden Jesu am Kreuz – besonders mit meinem Favoriten „ad genua“ – durch Betonung und Phrasierung, Organik und Überzeugung eine emotionale Wolke des Trostes, der sündenbefreienden Bestimmung und des überwältigenden Beileids am Himmel der musikalischen Glückseligkeit aufziehen ließen. Die instrumentale Entsprechung lieferten dazu die warmen, herzensguten Violinen von Podger und Huw Daniel sowie der wundervolle Basso von Continuo-Gambe Reiko Ichises, Violone Jan Spencers, Theorbe Eligio Quinteiros und Truhenorgel des Solisten James Johnstone.
Obwohl nur bei erstem Konzert besagtes Lübeck mit seinem Marienorganisten Buxtehude Ziel und Zentrum Bachs Unternehmung war, zierte eine damalige Ansicht der Hansestadt den Leinwandhintergrund beim zweiten Konzert um Bachs Leben und Wirken in Thüringen und Sachsen. Darin sollte – wie eingangs angemerkt – Buxtehude schließlich nur als der lehrreiche Held an den Tasten in Erinnerung gerufen werden, gemeinsam mit dem Umstand, dass Bach auch durch die frische Verlobung mit seiner ersten Frau Maria Barbara der Heimat zu sehr verbunden war, als in Holstein die Tochter Buxtehudes zu heiraten, was als dortiger Brauch bei der Nachfolgeregelung galt. Buxtehudes Präludium g-moll für Cembalo spielte Marcin Świątkiewicz an beiden Manualen in seiner emotionalen Kraft und Hingabe mit der königlich-manierlichen Würde und faszinierenden Leichtigkeit des Instruments, wodurch er den intimeren Vertreter so groß machte wie die Orgel.
An zentraler Stelle im Programm Mostly Johann wurde Johann Sebastians Achter Kontrapunkt der Kunst der Fuge eingruppiert, den Brecon Baroque im Tripel Podger, Jane Rogers und Alex Rolton mit konzentriertem Ernst sowie höchster Referentialität an intonatorischer Klarheit und rhythmischer, dynamischer Gelehrtheit als lüftendes Aufschlagen eines musikalischen Lexikons zelebrierte. Jenes Gesamtwerk der Fuge fand seine Inspiration unter anderem in Johann Kaspar Kerll und verleitete Bachs Musterschüler Johann Gottlieb Goldberg und Lieblingseleve Johann Ludwig Krebs („In diesem großen Bach sey nur ein einziger Krebs gefangen worden.“) zu eigenen Einflechtungen. So drapierten sich deren Werke als Wegmarken drumherum, zunächst Kerlls Triosonate g-moll, die die beiden Geigen Podgers und Daniels und die unnachahmlich virtuose Gambe Ichises samt Continuokollegen mit solchem theatralischen und frischen Gestaltungsvermögen versahen, als wäre die Musik von jedem winzigen Partikel Staub befreit, ja gerade neu produziert worden. Krebs' Fantasie für Oboe, Orgel, Bratsche und Cello lebte besonders vom exquisiten Ton Alexandra Bellamys Holzblasinstrument und dessen Phrasierung, aber ebenfalls von Rogers' – als bekannteste Barockviolistin der britischen Insel – unbestechlich grandioser, unaufgedrängter Routine beim Saitenspiel. Aus Goldbergs Sonate oszillierte dann die ungeheure Freude, Gefühligkeit und Präzision Podgers tanz-locker-führenden Art; Tanz, der im Achten Kontrapunkt steckt und Bachs Cousins bestimmte.
Deren Suiten/Ouvertüren mit zwei Oboen, Fagott, Streicher und Continuo, die Anfang und Ende des Konzerts definierten, wohnte dieser – trotz hier kleinerer Ungereimtheiten Bellamys (die zudem das Tambourin schwang) – der Spaß eines Ratskellerstammtisches, Vitalität, Energie und einfach ein volles Maß an Ausgelassenheit inne. Podgers Walk with Bach war in der ersten Etappe bereits ein eindrücklicher Ausflug. Wie damals Bach nach Lübeck, sollten in den nächsten zwei Jahren wieder viele Begeisterte nach Wales zu Brecon Baroque pilgern.
