Fast als Prototyp der Barockoper kann Händels Alcina gelten, diese Geschichte von der Herrscherin über eine verzauberte Liebesinsel, die ihre Exgeliebten in wilde Tiere, Pflanzen oder Felsen verwandelt und sich ein fantastisches Reich voller Prunk und Pracht geschaffen hat, in dem nur Lust, Vergnügen und Müßiggang regieren. Das Libretto gäbe Gelegenheit für spektakuläre wechselvolle Szenenbilder und Balletteinlagen, wie sie bei der Uraufführung im Londoner Covent Garden 1735 für Begeisterungsstürme gesorgt haben.
Die Inszenierung an der Staatsoper Hannover von Lydia Steier verliert sich allerdings nicht in oberflächlichem Pomp oder bloßen Showeffekten, wenngleich es auch hier in der Welt Alcinas ziemlich bunt zugeht. Das ist vor allem den fantasievollen Kostümen von Gianluca Falaschi zu verdanken, in denen Alcinas Hofstaat als exotische Paradiesvögel und farbenprächtige Südseeinsulaner die Szene beherrschen. Ansonsten besteht die Bühne aus einem funktionalen Treppenpodest.
Aber die Szene wandelt sich nach der Pause, wenn (wenigstens in dieser Inszenierung) der Schauplatz wechselt und die Handlung in einem Großraumbüro modernen Zuschnitts weitergeht. Dies ist die Welt Bradamantes, der vollkommene Gegensatz zum fröhlichen Nichtstun in Alcinas Reich. Hier sind die bunten Gestalten der Insel dazu verdonnert, stupide Büroarbeit zu verrichten und streng im Takt Geschäftsbriefe in ihre Maschinen zu hämmern.
Wie ist es dazu gekommen? Bradamante ist auf der Suche nach ihrem Verlobten Ruggiero auf der Insel Alcinas fündig geworden, wo dieser sich ganz den Verlockungen der Zauberin hingegeben hat. Von Bramante will er nichts mehr wissen, ja erkennt sie nicht einmal. Durch eine Intrige allerdings kommt die scheinbar heile Welt der schwärmerischen Liebe zwischen Ruggiero und Alcina ins Wanken. Bradamantes Begleiter Melisso gelingt es, Ruggiero die Augen zu öffnen und er erinnert ihn an seine Pflichten gegenüber seiner Verlobten. Gegen den heftigen Widerstand Alcinas kann sich Ruggiero aus deren Fängen befreien und kehrt reumütig zu Bradamante zurück. Und das ist nun das Büro, wo Bradamante das Sagen hat.
Die Oper zeige, wie ein zeitgenössischer Rezensent bemerkte, „wie die Heftigkeit jugendlicher Leidenschaft zu Unvernunft führen kann”. So moralisch urteilt Steier in ihrer Regiearbeit nicht, aber deutlich zeigt sie die zwei Welten auf: die eine aus purer Sinnenfreude und Magie, die Menschen zu willenlosen Objekten macht und die andere, in der Pflichten und Arbeit dominieren. Lustprinzip versus Realitätsprinzip sozusagen. Dies alles aber nicht trocken belehrend, sondern angereichert mit Witz und Ironie.
Dass allen beteiligten Figuren dieser Spagat nicht leichtfällt, ist Gegenstand von Steiers Regie, die sich auf deren Psychologie konzentriert. Da ist Bradamante, die anscheinend unanfechtbar an ihrem Geliebten festhält. Carmen Artaza sang diese Rolle mit klangvollem Mezzo und zeigte deren Charakter als starke Persönlichkeit. Aber ganz ohne Anfechtungen bleibt auch sie nicht – „Vorrei vendicarmi”, eigentlich möchte sie sich rächen, verdrängt diesen Affekt aber wieder. Der jugendlich unbedarfte Ruggiero, ursprünglich die Kastratenrolle dieser Oper, wurde in Hannover von der Mezzosopranistin Nina von Essen verkörpert. Der Sängerin gelang ein überzeugendes Rollenportrait, von der anfänglich blinden Verliebtheit („Il caro bene”) über die Erschütterung nach der Einsicht in seine Lage und seine Bitte um Verzeihung gegenüber Bradamante („Perdona” – Vergib mir, Zauber hat meinen Geist verwirrt). Bis Ruggiero schließlich in der Arie „Verdi prati” von der falschen Idylle Abschied nimmt, einer der schönsten Schöpfungen Händels, die die Sängerin in abgeklärter Schlichtheit und makelloser Gesangslinie präsentierte – nun wieder in den Armen der zurückgewonnenen Bradamante am Wendepunkt der Handlung.