Die neue Premiere des Staatsballetts Berlin führt uns in den sogenannten neoklassischen Stil. Nach dem Sprung in die Vergangenheit mit Rekonstruktionen von Klassikern wie La Bayadère und La Sylphide und vorausschauenden Werken wie Sharon Eyals Half Matter spannt dieser dreiteilige Abend einen Bogen über die neuere Tanzgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und rückt uns näher an das, was die meisten von uns unter zeitgenössischem (auf Spitze getanztem) Ballett heute verstehen. Als eine Art von Steigerung der Dekonstruktion der klassischen Balletttechnik konzipiert, stellt uns der ausverkaufte Abend zwei Meister – George Balanchine und William Forsythe – und eine Uraufführung von Richard Siegal vor.
Vor 28 Jahren zum letzten Mal in Berlin aufgeführt, ist Balanchines Theme and Variations aus dem Jahr 1947 ein absoluter Klassiker. Die abstrakte Interpretation von Tschaikowskys Musik für 26 Tänzer ist eine Hommage an den russischen Meister des klassischen Ballettes, Marius Petipa, mit klarem Echo von Werken wie Dornröschen. Auf der Bühne unter drei Kronleuchtern und vor einer hellblauen Wand stehen 12 Tänzerinnen in kurzen, hellblauen Tutus und Tiara (Kostüme: Elsie Lindström) um das Hauptpaar Maria Kochetkova und Daniil Simkin herum. Was nie veraltet, ist Balanchines schnörkellose Bewegungssprache; das Ganze fängt mit einer einfachen Tendu- (und einer etwas ungewöhnlichen Arm-) Variation an. Was bei Balanchine simpel aussieht, ist sehr anstrengend; die Tänzer des Staatsballetts Tänzer zeigten dabei viel Musikalität und Synchronizität. Die neoklassischen Linien waren sichtbar, wenn auch etwas verlangsamt und nicht ganz so reaktionsfreudig mit den Armen wie den Beinen. Während Simkin mit seiner Reihenfolge von hohen Double tours en l’air und Pirouetten überzeugte, und eine glitzernd lächelnde Kochetkova perfekte Sechs-Uhr-Penché-Beine und schnelle Fußarbeit mit stabilem Gleichgewicht zeigte, gewann das Corps de Ballet das Publikum durch seine starke Bühnenpräsenz.
Als natürliche Steigerung der neoklassischen Formen Balanchines folgte die angriffslustige Bewegungssprache von Forsythes The Second Detail (1991). Ursprünglich konzipiert als zweiter Teil eines abendfüllenden Programms, The Loss of Small Details, verlangt es auch Ausdauervermögen und Einsatz. Vor 13 Jahren in Berlin uraufgeführt, beruht The Second Detail auf einer Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Tänzer und spielt mit Entfokussierung und Vorstellungsvermögen. In hellgraue Trikots gekleidet (Yumiko) und vor einem minimalistischen, weißen Bühnenbild füllen 14 gleichberechtigte Tänzer den Raum mit schnellen und präzisen Bewegungssequenzen der fast athletischen Choreographie, dahinter eine Reihe von Hockern. Die hektischen Bewegungen der Tänzer waren mir aber manchmal zu zurückhaltend. Dort, wo Angriff wichtig gewesen wäre, wirkten die Bewegungen zu kontrolliert, zwar bewusst initiiert, doch schien der Elan zu fehlen. Besonders überzeugend waren aber Chinatsu Sugishimas gewagte, peppige Bewegungen und die Synchron- und Kanonbewegungen der ganzen Gruppe. Trotz Forsythes dekonstruktiven Ansatzes zeigten sich viele Parallelen zum vorigen Stück. Was bei Balanchine die Arbeit mit der Zeit ist, ist bei Forsythe Bewegung im Raum. Und so glaubte man, zu Thom Willems Musik Balanchines Linien zu erkennen, die als Soli, Gruppenarbeit oder Pas de deux im Raum widerhallen, und zu denen als Ergänzung dekonstruierte Bewegungen in en de dans hinzugefügt sind.