Unter Musikliebhabern gilt das Streichquartett als die höchste Evolutionsstufe aller Gattungen der Kammermusik. Ebenso herrscht Einigkeit, dass es von dieser Regel Ausnahmen gibt. Niemand würde bestreiten, dass dazu das C-Dur-Quintett von Franz Schubert gehört, oder das Klarinettenquintett von Wolfgang Amadeus Mozart. Oder eben jene beiden Streichsextette von Johannes Brahms, die das Belcea Quartet mit Tabea Zimmermann und Jean-Guihen Queyras 2022 als Album herausgebracht haben und derzeit in einer Serie von Konzerten aufführen. Diese beiden Stücke finden sich bei so manchem ambitionierten Laienmusiker auf der persönlichen Bucket List, sind sie doch unvergleichlich reich an herrlichen Melodien, raffinierter Kontrapunktierung und emotionaler Vielschichtigkeit. Die Brahms-Sextette gehören zu den Kompositionen, bei denen man eine Aufnahme auf keinen Fall ohne genug Zeit anhören darf; denn es ist schier unmöglich, einfach mittendrin aufzuhören.
Dass es nicht mehr aufhört, das wünschten sich auch die Konzertbesucher im Münchner Herkulessaal, der zwar nicht voll besetzt war, dafür aber eine hohe Dichte eingefleischter Kammermusikliebhaber aufwies, die – den Pausengesprächen nach zu urteilen – sich vereinzelt auch selbst schon an diesen Perlen der Romantik versucht hatten. Sei es aktiv oder zumindest als informierte Hörer einschlägiger Aufnahmen. „Diese CD habe ich so oft gehört wie keine CD davor“. „Bei der fünften Variation des Andante aus dem B-Dur Quintett musste ich weinen, so schön war’s.“ Solche und ähnliche Sätze raunten in der Pause durch das Foyer des Herkulessaals und ließen erahnen, dass jenes Konzert mehr einem Gottesdienst glich als einem Münchner Kultur-Event.
Sie spielten aber auch zum Hinknien schön, die vier Belcea-Musiker mit dem kanadischen Cellisten Jean-Guihen Queyras und der Wunderbratschistin Tabea Zimmermann. Schon in den ersten Takten des B-Dur-Sextetts verströmte Antoine Lederlin seinen warmen Celloton und lud das Publikum zum Schwelgen ein. Die Primgeigerin und Namensstifterin des Quartetts, Corina Belcea, übernahm das Thema zwar noch etwas angespannt, lockerte aber im Laufe des Konzerts immer mehr auf, so dass ihr in der zweiten Hälfte bei den unfassbar musikantischen Themen des G-Dur-Sextetts sogar ein Lächeln übers Gesicht huschte. Insgesamt blieb sie jedoch ihrer üblichen Linie treu, die hochkontrollierte Präzision und ausgefeilte Aufnahme-Qualität vor spontane Gefühlsausbrüche stellt. So auch die koreanische Geigerin Sueyon Kang, welche im vergangen Jahr den zweiten Geiger Axel Schacher ablöste. Sie fügt sich hervorragend in den dichten und vollen Klang des Belcea-Ensembles ein. Besonders im B-Dur Quartett jedoch schob sie stellenweise allzu manieriert die musikalischen Linien vor ihrem Bogen her, so dass jeder Ton wie ein Seufzer klang.
Als dann jedoch das dritte Thema des ersten Satzes genießerisch von Antoine Lederlin ausgekostet worden war und die erste Bratsche übernahm, wurde deutlich, wer die heimliche Göttermutter diese Abends war: Tabea Zimmermann spielte nicht nur hinreißend klangschön und schwebend graziös, sondern bildete auch das pulsierende Zentrum dieser Formation brillanter Kammermusiker. Man konnte gar nicht genug bekommen von ihren schwungvollen und vibrierenden Kantilenen, den delikaten Rubati und verschmitzten Akzenten. Selbst die Pizzicati waren nicht einfach nur dahingezupft, sondern jeder Ton war anders, dem Moment und der Stimmung angemessen, im rechten Moment hervortretend, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Zimmermann war stets darum bemüht, das Geflecht der musikalischen Zwiegespräche zu unterstützen, warf ihren Mitmusikern liebevolle Blicke und sanfte Gesten zu und fühlte sich dabei selbst sichtlich pudelwohl. Wie eine perfekte Tischdame, die sich nicht nur aus Pflichtbewusstsein um das Wohl ihrer Gäste und den anregenden Fluss der Konversation bemüht, sondern aus genuinem Interesse an den Gedanken ihrer Mitmenschen und im Falle Zimmermanns einer unstillbaren Liebe zu den einzigartigen Momenten gemeinsamen Musizierens.
Krzysztof Chorzelski war ihr dabei ein kongenialer Partner und stellte im zweiten Teil des Abends als erster Bratscher des G-Dur-Sextetts in wunderbaren Soli seine Souveränität und Führungsstärke unter Beweis. Hier wechselte auch Jean-Guihen Queyras zur ersten Cellostimme und interpretierte die dicht gesäten Kantilenen und solistischen Passagen mit all seiner technischen Überlegenheit und spielerischer Leichtigkeit, die seine Darbietungen so erfrischend und kurzweilig werden lassen. So war sie denn auch viel zu schnell vorbei, diese Juwelenschau der Kammermusikliteratur. Was bleibt sind Ohrwürmer, die die Zuhörer noch Tage später unvermittelt in der U-Bahn vor sich hinsummen werden. Und wer die Melodien dann erkennt, der wird verständnisvoll schmunzeln und an seine Bucket List denken.
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