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Machtvakuum im Kreml: Mussorgskys Chowanschtschina am Grand Théâtre de Genève

Por , 27 marzo 2025

Im Vergleich mit Boris Godunow ist Mussorgskys Chowanschtschina eine schwer erschließbare Oper. Wie jene behandelt auch sie ein Kapitel aus der russischen Geschichte, nämlich den Strelizenaufstand im 17. Jahrhundert. Doch der Komponist und sein Textdichter gehen mit der historischen Wirklichkeit sehr frei um und statten das Werk mit einer Überfülle von Ereignissen aus, sodass man den Überblick schnell verlieren kann. Die zweite Problematik besteht darin, dass Chowantschtschina ein Torso geblieben ist, weil Mussorgsky vor der Vollendung gestorben ist.

Chowanschtschina
© Carole Parodi

Am Grand Théâtre de Genève, wo die Oper in einer Neuproduktion zu erleben ist, hat man sich für die Orchestrierung von Schostakowitsch mit dem Finale in der Version von Strawinsky entschieden. Im Fall von Genf kommt noch eine dritte Schwierigkeit dazu, welche die Regie von Calixto Bieito betrifft: Die gesungenen Texte decken sich nicht in jedem Fall mit dem, was man auf der Bühne zu sehen bekommt.

Chowanschtschina handelt von den politischen und religiösen Machtkämpfen, die durch den Tod des Zaren Fjodor III. im Jahr 1682 ausgelöst werden. Da der Zarewitsch Peter (der spätere Peter der Große) noch minderjährig ist, drängen verschiedene Gruppierungen darauf, das Machtvakuum zu füllen. Da sind zum einen die Bojaren, die konservativen Großgrundbesitzer, personifiziert durch den Strelizenanführer Iwan Chowansky und seinen Sohn Andrei. Eine andere mächtige Gruppe sind die Altgläubigen der russisch-orthodoxen Kirche, vertreten durch deren Anführer Dossifei und die Seherin Marfa. Drittens gibt es die Vertreter einer westeuropäisch ausgerichteten Aufklärung, als deren Repräsentant der Fürst Golizyn auftritt. Und schließlich ist da noch Schaklowiti, ein Intrigant und Gegenspieler Chowanskys, der diesen im vierten Akt ermordet.

Chowanschtschina
© Carole Parodi

Die Gretchenfrage für einen Regisseur lautet heutzutage: Wie hältst du es mit den Anspielungen an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bieito zeigt nicht das Russland Putins, wiewohl er das Stück in der heutigen Zeit ansiedelt. Er prangert ganz allgemein Machtmissbrauch und Intrigen auf Kosten der leidenden Bevölkerung an. Die Untertanen, die Soldaten und die Gläubigen werden vom Choeur du Grand Théâtre und der Maîtrise du Conservatoire populaire eindrucksvoll repräsentiert.

Bieito arbeitet mit starken Bildern, die manchmal rätselhaft bleiben und dennoch betroffen machen. Ein wichtiges Element ist dabei die von Rebecca Ringst konzipierte Bühne. Hauptelement bilden zehn riesige verstellbare Metallgerüste mit mal transparenten, mal opaken Leinwänden, auf die Sarah Derendinger unheimliche Videos projiziert. Bei den Kostümen verzichtet Ingo Krügler auf alles Russische, akzentuiert vielmehr die verschiedenen Rollen: Chowansky und seine Strelizen tragen schwarze Polizeiuniformen, Golizyn einen edlen Anzug oder Dossifei einen Priesterumhang.

Chowanschtschina
© Carole Parodi

Die musikalische Verantwortung der Produktion liegt bei Alejo Pérez, der nach Prokofjews Krieg und Frieden und Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk bereits zum dritten Mal mit Bieito zusammenarbeitet. Der Dirigent führt das Orchestre de la Suisse Romande wie in einem Krimi, bei dem die orchestrale Schicht die Aktionen der Täter und Opfer untermalt und deutet.

Bei den Gesangspartien, alle auf Russisch gesungen, dominieren verständlicherweise die Osteuropäer. An erster Stelle ist der russische Bass Dmitry Ulyanov zu nennen, der den Fürsten Ivan Chowansky als stimmgewaltigen Machtmenschen, Egoisten und Genießer gibt. Dessen Sohn Andrei Chowansky wird vom polnischen Tenor Arnold Rutkowski als Frauenheld und unmilitärischer Weichling gezeichnet. Dmitry Golovnin verleiht dem Fürsten Golizyn durch sein edles Timbre zu einer in diesem Umfeld beinahe sympathischen Erscheinung. Als durchtriebener Typ zeigt sich der Dossifei des Ukrainers Taras Shtonda. Mit seiner imperialen Bassstimme erscheint er als Intrigant, der seine Maske zuletzt definitiv fallen lässt.

Chowanschtschina
© Carole Parodi

Und wo bleiben die Frauen? In dieser Männeroper bildet die Rolle der Marfa der starke Gegenpol. Die Mezzosopranistin Raehann Bryce-Davis, eine Amerikanerin mit jamaikanischer Herkunft, wirkt in Bieitos Deutung als heimliche Hauptfigur. Als Exgeliebte des treulosen Andrei, als Wahrsagerin, die Golizyn sein politisches Ende prophezeit und als Rebellin gegen den strengen Dossifei bildet sie gewissermaßen das Zentrum des Stücks. Mit ihrer ausdrucksvollen Stimme und ihren bewundernswerten darstellerischen Fähigkeiten eignet sie sich hervorragend für diese Funktion. Eine Nebenrolle füllt die Emma von Ekaterina Bakanova aus, die das Object du désir von Vater und Sohn Chowanski bildet.

Mit der Rolle von Marfa ist auch der von Bieito einschneidend veränderte Schluss von Chowanschtschina verbunden. In der Originalfassung lässt der zum Zaren ausgerufene Peter die besiegten Strelizen begnadigen. In der Genfer Fassung werden sie in einem Eisenbahnwagen mit Breitspurmaß – die Transsibirische lässt grüßen – deportiert und schließlich vergast. Und wer hat es zu verantworten? Niemand anderer als Dossifei.

Chowanschtschina
© Carole Parodi

Der Kirchenführer entpuppt sich somit als menschenverachtendes Scheusal, der nicht anders handelt als die politischen Machthaber. Vom eigentlich vorgegebenen Opfertod der Altgläubigen – einer kollektiven Selbstverbrennung, um der Ermordung der Zarentruppen zu entgehen – will Bieito dann konsequenterweise auch nichts wissen. Ebenso findet das Happyend zwischen Marfa und dem jungen Chowansky nicht statt. Marfa bestraft den Treulosen damit, dass sie ihn mit einem Tuch erstickt. Daraufhin stoßen die Altgläubigen den Wagen mit den (unsichtbaren) Leichen der Strelizen in den Hintergrund. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob Mussorgskys Oper so viel interpretatorische Freiheit erträgt.  


Thomas Schachers Pressereise (Fahrt- und Hotelkosten) wurde vom Grand Théâtre de Genève bezahlt.

***11
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“Bieito arbeitet mit starken Bildern, die manchmal rätselhaft bleiben und dennoch betroffen machen”
Crítica hecha desde Grand Théâtre de Genève, Geneva el 25 marzo 2025
Musorgskiï, Khovanshchina
Grand Théâtre de Genève
Alejo Pérez, Dirección
Calixto Bieito, Dirección de escena
Rebecca Ringst, Diseño de escena
Ingo Krügler, Diseño de vestuario
Michael Bauer, Diseño de iluminación
Chorus of the Grand Théâtre de Genève
Beate Breidenbach, Dramaturgia
Dmitry Ulyanov, Prince Ivan Khovansky
Arnold Rutkowski, Prince Andrei Khovansky
Dmitry Golovnin, Prince Vasily Golitzin
Taras Shtonda, Dosifey
Raehann Bryce-Davis, Marfa
Vladislav Sulimsky, Boyar Fyodor Shaklovity
Ekaterina Bakanova, Emma
Michael J. Scott, Scrivener
Liene Kinča, Susanna
Emanuel Tomljenović, Kuska
Vladimir Kazakov, 1st Strelets
Igor Gnidii, Varsonofiev
Maîtrise du Conservatoire Populaire de Musique de Genève
Mark Biggins, Dirección de coro
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