Die Vorfreude hätte nicht größer sein können auf den zweiten Schubert-Abend des fabelhaften Kunstlied-Duos Gerhaher – Huber. Nachdem die beiden niederbayerischen Musiker am Montag, den 27. April das Publikum auf eine bewegende Wanderung durch die Gefühlslandschaften des jungen Müllersburschen entführt hatten, stand am Donnerstag, den 30. April, die Winterreise auf dem Programm. Christian Gerhaher und Gerold Huber hatten sich fest vorgenommen, den großen erzählerischen Spannungsbogen, der ihnen bei der Schönen Müllerin so eindrucksvoll gelungen war, in der Winterreise nun auf die einzelnen Lieder zu verdichten.
Während die meisten Interpretationen dieses epochalen Liedzyklus‘ nämlich eine zusammenhängende Entwicklung durchlaufen, die damit endet, dass der Ich-Erzähler dem Knochenmann in Gestalt eines Leiermanns begegnet und seiner Todessehnsucht schließlich nachgibt, ist Christian Gerhaher überzeugt, dass zum einen die Winterreise nicht mit dem Tod des Protagonisten endet und zum anderen die einzelnen Lieder in keinem unmittelbaren Zusammenhang miteinander stehen. Dies begründet er fundiert mithilfe biographischer Bezüge zum persönlichen Schicksal des Dichters Wilhelm Müller, der 1813 als Freiwilliger für die Befreiungskriege gegen Napoleon rekrutiert wurde und aufgrund unglücklicher Umstände kurze Zeit später wieder unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde. Gerhaher vermutet, dass Müller diese Episode seines Lebens in den der Winterreise zugrundeliegenden Gedichten mitunter fast selbstironisch verarbeitet hat. Der Ausweg aus dem persönlichen Schicksalsschlag ist demnach nicht der Tod, sondern die distanzierte Nacherzählung.
Die Winterreise nicht als einen tränentriefenden Strom inbrünstiger Seufzer zu verstehen, ist sicher der richtige Ansatz, um die einzelnen Lieder als differenzierte Schilderungen seelischer Zustände in sich fertig erzählen zu können. Ob man allerdings die Distanz der Reflexion über das Erzählte so weit treiben muss wie Gerhaher und Huber, ist Geschmackssache. Nach der gemeinsamen Seelenwanderung im vorangegangenen Konzert wurden die Zuhörer an diesem Abend jedenfalls nicht an der Hand genommen wie in vielen anderen Aufführungen der Winterreise, bei denen man durch raue, unwirtliche Winterlandschaften gezerrt wird und den kalten Schnee förmlich im Gesicht spürt. Gerhaher und Huber zeichneten vielmehr diverse Bühnenbilder und stellten davor perfekt ausgearbeitete Szenen menschlicher Empfindungen nach. Es war fast so, als würde man in einer anatomischen Sammlung an Vitrinen vorbeiflanieren, die statt allerlei Organen und Körperteilen eine Schneekugel nach der anderen enthielten, in denen Entwicklungsgeschichten der menschlichen Seele im Miniaturformat präsentiert wurden.