Der belgische Dirigent, Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker Paul van Nevel ist dieses Jahr 75 geworden. Schon 50 Jahre lang dirigiert er sein Huelgas Ensemble, das sich auf die Aufführung polyphoner Chormusik des späten Mittelalters und der Renaissance spezialisiert hat; und seit den Siebzigerjahren verbringt Van Nevel viel Zeit in Bibliotheken auf der Suche nach alten Manuskripten und setzt sich unermüdlich dafür ein, vergessene Musikschätze wieder ans Licht zu bringen. Die Konzerte des Huelgas Ensembles sind deshalb nicht nur hochsensibel und so authentisch ausgeführte Entdeckungsreisen, sondern bieten darüber hinaus interessante Einsichten in die Anfänge der europäischen Musikgeschichte.
Das Konzert bei der diesjährigen Ruhrtriennale begann mit einem französischen Organum; so nennt man die ersten mehrstimmigen Gesänge, die sich vor ungefähr tausend Jahren aus der Gregorianik entwickelt hatten. Pérotin (Magister Perotinus), der bedeutendste Komponist der Notre-Dame-Schule (13. Jahrhundert) spickt seine vierstimmige Komposition nur so mit Dissonanzen. Noch auffallender und gewöhnungsbedürftiger an diesem Stück, das von allen zwölf Sängern vorgetragen wurde, waren allerdings die zahlreichen zeitgenössischen Verzierungen, die am ehesten mit einem übermäßigen Vibrato zu beschreiben sind. Das Huelgas Ensemble begab sich damit nach eigener Darstellung wieder einmal (verdienstvoll) auf aufführungstechnisches Neuland.
Das zweite Stück, die sechsstimmige Motette Jubilate Deo von Pierre de Manchicourt ist 300 Jahre jünger und klang schon viel vertrauter mit klangkräftig blühenden Sopranen (Cantus) und sonoren eleganten Bässen. Danach ging es wieder 150 Jahre zurück in der Zeit nach Zypern. In der Besetzung von zwei Frauen- und vier Männerstimmen stand ein phonetisches Spiel mit Wortsilben im Vordergrund dieser Doppelmotette. Die Musik erinnerte teilweise an sinnliches Jauchzen, vorgetragen mit dazu passendem innwendigem Lächeln.
Von den bekannteren Komponisten Josquin des Prez und Guillaume de Machaut gab es mit einem Sanctus und einem Gloria jeweils einzelne Messeteile zu hören. Das Huelgas Ensemble demonstrierte, wie undogmatisch sie diese wunderschönen Kompositionen als auf sich selbst stehende Kunstwerke anerkennt, obwohl die imitatorisch verarbeiteten Texte deutlich auf den gottesdienstlichen Gebrauch hinwiesen.