Eine Passion mitten im Sommer? Zwar sind die in Musik gesetzten Leidensgeschichten Jesu schon längst aus dem Rahmen der christlichen Liturgie gelöst und werden selbstverständlich auch im Konzertsaal aufgeführt. Bachs Johannes-Passion erlebte, nachdem die Noten seit der letzten Aufführung in Leipzig 1749 in Vergessenheit geraten waren, eine Wiederaufführung erst 1833 in der Berliner Singakademie, ebenfalls in der Form eines Konzerts. Dennoch pflegt man heute Aufführungen auch an profanen Orten in den zeitlichen Zusammenhang zur vorösterlichen Passionszeit zu legen.
Johannes-Passion mit dem Freiburger Barockorchester, Vox Luminis und Solist*innen
© Salzburger Festspiele | Marco Borrelli
Dass in diesem Jahr eine Aufführung bei den Salzburger Sommerfestspielen stattfand, ist zwar ungewöhnlich, nicht aber ohne Sinn. Die Festspieldramaturgie hat das Werk nämlich in den größeren Kontext der Ouverture spirituelle eingebettet, dieser einwöchigen Konzertreihe vor Beginn des Hauptprogramms mit Musikwerken, die sich in besonderer Weise mit religiösen und philosophisch-ethischen Fragen auseinandersetzen.
Das Motto in diesem Jahr lautete Fatum, Schicksal. Und bezogen auf die Passion könnte die Frage lauten, inwiefern Christi Leiden eben schicksalhaft war. Die Johannes-Passion beantwortet die Frage theologisch eindeutig: Bachs Komposition stellt den Kreuzestod Jesu als Vollendung des göttlichen Heilsplans vor: Im Eingangschor „Herr unser Herrscher” schon wird dies angekündigt und in einer der wunderbarsten Arien „Es ist vollbracht” springt die Musik vom lamentierenden Molt'adagio unvermittelt in sieghaftes Vivace: „Der Held aus Juda siegt mit Macht”. Anders als in der Matthäus-Passion, in der es vor allem um das Mitleiden mit dem Lamm Gottes geht, gilt es in Aufführungen der Johannes-Passion, diesen theologisch begründeten Triumph-Affekt herauszustellen.
Doch auch Menschen, denen Glaube und Religion ferner liegt, kann dieses Werk spirituelle Anstöße geben. Denn worum geht es? Um Verrat, Schuld und Reue, Hoffnung auf Erlösung oder darum, Leid anzunehmen. Auch geht es um eine fanatisierte Menge, die einen Unbequemen beseitigen will: „Weg, weg! – Kreuzige, kreuzige!”. Und Pilatus stellt eine der größten Fragen überhaupt: „Was ist Wahrheit?” Bach hat all dies plastisch, teilweise dramatisch und emotional berührend komponiert.
Die kleine Besetzung beider Ensembles ermöglichte hohe Transparenz des Klangs, trotz des langen Nachhalls in der Salzburger Kollegienkirche. Die 16 Sängerinnen und Sänger von Vox Luminis waren, in den Stimmen gemischt, im Halbkreis hinter dem 21-köpfigen Orchester postiert. Die Sängerinnen und Sänger der Arien waren in den Chor integriert und traten für ihre Soli vors Publikum. Lionel Meunier leitete mit dezenten Gesten den Chor, Petra Müllejans als Konzertmeisterin das Orchester – beide Ensembles sind nach jahrelanger Zusammenarbeit hervorragend auf einander eingespielt.
Schön kamen die historischen Instrumente zur Geltung, der Klang der Oboen bereits im Eingangschor scharf mit klagenden Dissonanzen, aber weich die Flöten in der Arie „Ich folge dir gleichfalls” als Begleiter der Sopranstimme. Das war hell und freudig die kanadische Sopranistin Stefanie True.
Raphael Höhn war die Idealbesetzung des Evangelisten, Lionel Meunier sang die Jesusworte und Sebastian Myrus die des Pilatus. Die drei Sänger gestalteten die Rezitative der Erzählung vom Verhör Jesu in lebendiger Rhetorik zu kleinen dramatischen Szenen. Myrus sang auch die Bassarien und seiner intensiven Gestaltungskraft waren zwei der Höhepunkte zu verdanken – das Arioso „Betrachte meine Seel” mit der Begleitung der beiden Viole d'amore, der Gambe und der leider etwas zu zarten Laute, aber insgesamt mit bezaubernder Klangwirkung; und wenn die Gesangsstimme in der Arie Nr. 32 an den „teuren Heiland” die Frage richtet, ob sie (als fromme Seele) durch seinen Tod ins Himmelreich einginge und darauf ein kurzes „Ja” folgt – dann strömte Myrus' Stimme voller Wärme und Empathie.
Auch Carine Tinney („Zerfließe mein Herze”), Jan Kullmann („Von den Stricken meiner Sünden”), William Shelton („Es ist vollbracht”), Vojtěch Semerád („Erwäge...”) und Florian Sievers („Ach, mein Sinn”, „Mein Herz, in dem die ganze Welt”) waren in ihren Arien überzeugende Botschafter der Bachschen Musik. Vox Luminis war in den Turbachören eine packend dramatische Volksmasse und in den Chorälen die kontemplativ eingestellte Gemeinde.
****1
Sobre nuestra calificación