„Sie ist alles, alles ist sie. Jede Figur, jedes szenische Ereignis ist Ausdruck ihrer Furcht, ihres Entsetzens, ihrer Wut“, so Thomas Bischoff über die Protagonistin seiner für das Nationaltheater Mannheim in der Spielzeit 2016/2017 erarbeiteten Textfassung zu La Reine / Die Königin. Was als Kreuzweg mit Musik bezeichnet ist, umfasst zwei aus der Liedliteratur des 19. Jahrhunderts hervorgegangene Zyklen von Hector Berlioz und Richard Wagner. Zum musiktheatralen Ereignis miteinander verwoben, werden die 1841 vom französischen Komponisten fertiggestellten Les nuits d’été und die 1857 im Züricher Exil entstandenen Wesendonck Lieder mit literarischen Versatzstücken aus dem lyrischen Werk Arthur Rimbauds und den philosophischen Dichtungen Gottfried Benns durchsetzt. Der ambitiöse Entwurf Bischoffs, dessen inszenatorisches Wirken sich an Theatertraditionen Heiner Müllers und Einar Schleefs anschließt, droht jedoch unter dieser kulturhistorischen Last am Abend der letzten Vorstellung zu ersticken.
Als alternde Königin wandelt Angela Denoke in langer Robe über das Schlachtfeld ihrer Erinnerungen. Vom strahlenden Kupferton ihres seidenes Saumes bis zum greisen Grau des Kragens zeichnet sich auf ihrem langen Kleid die Vergangenheit ab. In den sechs von Berlioz selbst für Orchester bearbeiteten Liedern ließ die Sopranistin dessen Bewunderung für die Britin Harriet Smithson, einer gefeierten Shakespearedarstellerin ihrer Zeit, aus dem fahlen Dunkel der Umgebung wiederauferstehen. Mit intensivem Timbre und lyrischer Einfühlsamkeit wurden die Gesängen, die auf Dichtungen Théophiles Gautiers beruhen, am letzten Vorstellungsabend zum melancholischen Klangbild.
Zwischen einer abgeschlagenen Flugzeugspitze, einem Reiterdenkmal und einer Fliegerbombe aus dem Ersten Weltkrieg erscheinen drei von den Schauspielern Catherine Janke, Franziska Rietz und Frank Richartz verkörperte Geister. Im Gewand einer geistlichen Nonne, eines ärmlichen Weibes und in der Uniform eines Kriegers fahren sie gleich Dämonen in die gesungenen Passagen der Königin ein und lassen die Musik im Orchestergraben verstummen: „Auf dem Tisch zwei. Männer und Weiber kreuzweis. Nah, nackt und dennoch ohne Qual. Den Schädel auf die Brust entzwei. Die Leiber gebären nun ihr allerletztes Mal.“ (Gottfried Benn, 1912) Bis zur Unkenntlichkeit vermischen sich in der von Martin Kukulies gestalteten Trümmerlandschaft jene von Gottfried Benn als Arzt an der Westfront erfahrenen Grausamkeiten mit Briefen Arthur Rimbauds, die während des Deutsch-Französischen Krieges verfasst wurden: „Ich ist ein anderer. Ich bin bei der Entfaltung meines Gedankens nur zugegen: Ich betrachte ihn, ich höre ihn; ich tue einen Bogenstrich: die Symphonie wogt in den Tiefen, oder sie springt mit einem Satz auf die Bühne.“ (Arthur Rimbaud, 1871)