In Sachen Barockoper gibt es in den Häusern des deutschen Sprachraums an den Komponisten aus Frankreich einiges gut zu machen. Händels Opern im italienischen Stil beherrschen hierzulande die Bühnen, Franzosen sind hingegen schwach vertreten. In ihren Opern fehlen die Bravourarien, sie gelten als steif, rein repräsentativ und durch die vielen Balletteinlagen als undramatisch. Nur Jean-Philippe Rameau findet sich ab und zu auf den Spielplänen. Die Oper Zürich hat nun seinen Erstling Hippolyte et Aricie auf die Bühne gestellt und mit dieser Inszenierung alle Vorurteile über die französische Barockoper vehement Lügen gestraft.
Das Erfolgsrezept: größte Expertise in der französischen Barockmusik, eine die Handlung tiefgründig ausleuchtende Regie, ein elegant klassizistisches Drehbühnenbild, das Raum für die intimen wie die spektakulären Szenen schafft, Spitzenmusikerinnen und -musiker der historischen Aufführungspraxis und nicht zuletzt ein durchweg großartiges Gesangsensemble. Herausgekommen ist eine Aufführung, die in höchsten Maße spannend und nicht minder geistig anregend ist.
Denn die holländische Regisseurin Jetske Mijnssen schafft in dieser für die Bühnenwirkung äußerst effektvollen Mischung aus allen drei von Rameau selbst erarbeiteten Fassungen eine faszinierende Synthese, welche einerseits den mythologischen Stoff der Geschichte ernst nimmt, zugleich aber darin auch den Kern hochdramatischer persönlicher Konflikte moderner Menschen erkennbar macht.
Die auf antiken Stoffen basierende Handlung erzählt die Geschichte zweier Königskinder, die nicht zueinander kommen dürfen. Aricie, zur Priesterin bestimmt, darf ihre Liebe zu Hippolyte nicht leben. Der wiederum wird von Phèdre, seiner eigenen Stiefmutter, so heftig begehrt, dass er sich körperlich gegen sie zur Wehr setzen muss. Just in diesem Moment platzt sein Vater, der Kriegsheld Thésée herein. Von allen tot geglaubt hat er sich aber dem Hades wieder entwunden, wohin er vorgedrungen war, um dem Totenreich einen Freund zu entreißen. Entrüstet über den vermeintlichen Fehltritt des Sohnes fordert er vom Gott Neptun dessen Tod. Zu spät enthüllt Phèdre ihrem Gatten die Wahrheit. Als Dea ex machina rettet Diana Hippolyte aber im letzten Moment, inthronisiert ihn als neuen Herrscher und gibt ihm Aricie zur Seite. Aus Scham über ihr unerhörtes Begehren hat sich Phèdre selbst getötet und Thésée muss entsetzt auf die Trümmer seines Lebens blicken.
In barocken Kostümen erzählt Jetske Mijnssen diese Handlung als Geschichte einer zerstörten Familie. Ihre Figuren sind nicht leblose Gestalten antiker Mythen, sondern in ihren Leidenschaften, Hoffnungen und Ängsten lebendige Menschen. Durch die subtile Personenregie gewinnen sie die Größe antiker Tragik. Allen voran spielte Stéphanie d'Oustrac als Phèdre packend zwischen hemmungslosem Verlangen und heftigen Schuldgefühlen – eine Figur regelrecht getrieben von unbeherrschbaren Gefühlen. Die Sängerin lotete die Möglichkeiten vokalen Ausdrucks dabei bis ins Extreme aus. Von heftigen Akkordschlägen der tiefen Streicher begleitet, schleuderte sie in einer expressiven Arie ihre Wut gegen die junge Rivalin heraus. Und ihr großes Schuldbekenntnis am Schluss kam einem inneren Zusammenbruch gleich.