Ravi Shankar soll einmal gesagt haben, dass der Unterschied zwischen fernöstlichen und westlichen Interpreten darin besteht, dass westliche Künstler die Musik in den Konzertsaal spielen und dem Publikum quasi entgegenwerfen, während fernöstliche Musiker einen Sog erzeugen, der die Zuhörer unweigerlich in ihren musikalischen Kosmos zieht. Was aber, wenn einem als Zuhörer weder das eine noch das andere angeboten wird? So fühlte es sich an, als am Freitag im Münchner Herkulessaal der wunderbare Marc-André Hamelin das Podium betrat, derart unscheinbar und zurückgenommen, als würde er sich gleich an den Schreibtisch begeben, den Laptop aufklappen und den biedersten Bürojob der Welt ausüben. Stattdessen setzte sich Hamelin an den sensibel intonierten Fazioli-Flügel und begann sein Konzert mit dem Nocturne in B-Dur der fast vergessenen polnischen Komponistin Maria Szymanowska, deren Werke zu Recht als würdige Vorläufer des Oeuvres ihres Landmanns Frédéric Chopins gelten.
Das Nocturne in B-Dur ist ein Archetyp ihres Stils und steht der Qualität der Nocturnes ihres ungleich bekannteren Zeitgenossen in nichts nach. Sangliche Kantilenen umrahmt von wiegenden Begleitmotiven gipfeln nach kontrastierenden Mittelpassagen in Moll in eine virtuose Coda. Ein Kinderspiel für Marc-André Hamelin, der die gefällige Komposition jedoch niemals ins Seichte abdriften ließ.
Hamelins tiefsinnige Zusammenstellung der Stücke seines Solo-Recitals wurde einem spätestens bei der folgenden Soirée de Vienne Nr.9 (nach Schubert) von Franz Liszt bewusst. Denn während die Vorromantikerin Szymanowska mit ihrem Nocturne dem Kompositionsstil ihrer Zeit weit enteilte, warf der ungarische Hochromantiker Liszt in seiner Bearbeitung des Sehnsuchtswalzers aus den 9 Soirées de Vienne einen musikalischen Blick zurück in die Zeit der frühromantischen Abendveranstaltungen Franz Schuberts, der so genannten Schubertiaden. Dass Hamelin die sechs Variationen biedermeierlich unprätentiös spielte, verstärkte diesen Eindruck noch. Mit der ostentativ-vordergründigen Brillanz diabolischen Virtuosentums hat der kanadische Jahrhundertpianist so rein gar nichts im Sinn. Gerade bei Liszt wünscht man sich jedoch, hie und da einfach mitgerissen zu werden, wie es der Komponist zweifelsohne im Sinn hatte und auch selbst bei seinen Konzerten fabelhaft zelebrierte. So aber kam die Bearbeitung Franz Liszts fast schon ein wenig farblos daher und das Publikum war noch nicht so recht abgeholt. Danach bildete die Walzer-Suite nach Schubert von Sergej Prokofjew die thematische Klammer zwischen dem ersten Abschnitt des Konzertes und den Sonaten des Prokofjew-Zeitgenossen Samuel Feinberg. Hamelin zeigte ein ums andere Mal die Vielseitigkeit seiner Anschlagskunst, die ihm gerade beim perkussiven Stil Prokofjews zugutekam.