Fast genau 100 Jahre ist es her, dass Kurt Weill und Bertolt Brecht in Baden-Baden eine Kurzoper Mahagonny-Songspiel zu einem Stoff herausbrachten, der am Beispiel einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt die Verkommenheit einer Gesellschaft erzählt, in der nur Geldscheine grenzenlos Freiheit und Konsum versprechen. In den Metropolen feiern in diesen 20er Jahren Jazz-Klänge und Cabaretsongs rauschende Erfolge; selbst in klassischen Opern halten populäre Lieder ihren Einzug. 1930 findet dann die Uraufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny des in einer jüdischen Kantorenfamilie aufgewachsenen Kurt Weill statt; sie war bereits von lautstarken Störmanövern überschattet, hinter denen Drahtzieher der erstarkenden NSDAP standen, empört über politische Botschaft und Ästhetik der Oper.
In der Behelfsspielstätte des Augsburger Staatstheaters im martini-Park wird seit kurzem die Oper in einer Neuinszenierung von Jochen Biganzoli gespielt. Und um aus einem Behelf gleich eine Tugend zu machen, verlegt er große Abschnitte des Werks zwischen die Parkettreihen des Zuschauerraums, „möglichst nahe an die Zuschauer herangespielt“ und mit dem „Orchester in Höhe des Parketts“, wie es Weill bereits 1930 forderte (gute Raumnutzung: Wolf Gutjahr). Konsequenterweise wird auch der Gesang mit Headmikes aufgenommen und verstärkt.
In Mahagonny ist alles erlaubt. Hier, mitten in der Wüste, sind drei Gauner in defekter Limousine gestrandet, haben die Witwe Begbick, Fatty und Dreieinigkeitsmoses mit dem „Hotel der reichen Männer“ ein künstliches Paradies gegründet, um Glücksuchern wie Jakob, Joe, Bill und Jim, zuvor Baumfäller in Alaska, für Fressen, Saufen, Sex und Boxwetten das Geld aus der Tasche zu ziehen: „Du darfst alles, sofern du nur bezahlst!” Da werden Selfies geschossen, Drinks ausgegeben. Fast unglaublich, dass sich da noch eine Liebesgeschichte zwischen Jim und der Bardame Jenny entwickeln kann, in der beide den Trubel ausblenden und Zukunftspläne schmieden.
Biganzolis Inszenierung spielt mit Kameraeinsatz vor dem Publikum und Videoscreen hinter dem Orchester auf eine Welt der Hollywood-Blockbuster an; die Sänger werden live gefilmt, ihre Sequenzen erscheinen mit Livebildern aus dem Publikum in den projizierten Filmen (Jana Schatz); Trugbilder eigentlich, wie auch die ganze Stadt Mahagonny. Da ist natürlich amüsant, wenn die initiale Autofahrt an blauen Schildern der Autobahn nahe Augsburg vorbeiführt, dessen Ortsschild mit „Mahagonny“ übermalt wird oder bei Herannahen des Hurrikans, der Mahagonny von der Landkarte fegen könnte, Wetterkarten des schwäbischen Umlands von Augsburg eingeblendet werden. Am Ende trifft der Sturm, bei schadenfrohem Aufatmen des Publikums, dann München, und das pralle Lasterleben geht bildstark weiter, nun im vergrößerten Bühnenraum hinter dem Orchester. Als Jimmys Geldbeutel leer ist, will keiner seiner früheren „Freunde“ ihm aushelfen, selbst Jenny nicht. Zechprellerei ist folglich ein Kapital-Verbrechen, von dem Jim sich nicht eben mal mit Geld freikaufen kann und das mit dem Tod geahndet werden muss. Ein überführter Mörder hingegen kommt mit einer Strafe von 100 Dollar frei.