Was für einen Verlust Corona für die Tanzkunst mit sich bringen kann, wird jedem klar, der einmal Maurice Béjarts Boléro zum gleichnamigen Klassiker von Maurice Ravel erleben durfte. Drei Dutzend Tänzer haben sich sukzessive zum Schlusstableau um einen roten Tisch versammelt, und über diese Korona von Tänzern erhebt sich strahlend der Solist, ein überwältigendes Bild, bei dem der Solist wie ein Gott aus der Menge gen Himmel zu schießen scheint. Solche engen Gruppierungen sind aber durch die Abstandsregeln derzeit unmöglich, und so umrahmen gerade einmal acht Tänzer den Tisch des Stuttgarter Balletts. Kein Zweifel: eine Einbuße an Dramatik.
Doch eine Krise, wie wir sie im Augenblick erleben und durchleiden, bedeutet gerade bei kreativen Geistern nicht unbedingt Lähmung, sie kann auch Potenzial freisetzen. So ist kaum vorstellbar, ob der Choreograph Roman Novitzky ohne die momentane Situation ein Stück mit dem Titel Everybody Needs Some/Body geschaffen hätte, einem Titel, wie er programmatischer kaum mehr sein kann, denn er ist ein Plädoyer für das Zusammenleben, die Gemeinschaft, und er macht deutlich, dass diese gerade auf der Tanzbühne ohne Körper nicht geht. So staffierte er die Bühne mit Kleiderpuppen aus, wie sie Schneider für ihre Arbeit benötigen. Sie dienen als Partner für die fünf Tänzer, die nach und nach die Bühne besiedeln. An ihnen leben sie ihre Sehnsucht nach körperlicher Nähe aus, mit ihnen versuchen sie, so etwas wie Tanz zu ermöglichen, was freilich nur bedingt funktionieren kann. Choreographisch ist das ein grandioses Schauspiel, eine Mischung aus Tragik und Komik, ein sich Bescheiden in die Umstände und ein Aufbegehren. Dabei muss Novitzky nicht einmal auf das verzichten, was erotische Beziehungen zwischen Akteuren in der Regel ausmacht: körperliche Nähe, hat er doch ein Tänzerpaar zur Verfügung, das auch privat ein Paar ist und auf Abstandsregeln nicht achten muss. Aber selbst hier hinterfragt er subtil das Phänomen Nähe. Vorsichtig nähern sich die beiden an, und erst als Paula Rezende ihrem Partner eine zarte Berührung zuteil werden lässt, löst sich dessen Erstarrung.
Diese Ambivalenz der Gefühle zieht sich durch alle drei Uraufführungen des Abends. Fabio Adorisio schickt in Empty Hands fünf grau gekleidete Tänzer auf die Bühne, Tänzer, deren Bewegungen sich immer wieder ganz in ihren eigenen Körper hineinzuziehen scheinen. Ein Aus-sich-Heraustreten, so hat man den Eindruck, ist in dieser neuen Welt nicht möglich. Nur gelegentlich löst sich einer aus der Gruppe und wagt Exkurse mit Armen und Beinen, um aber doch wieder in seine Ichbezogenheit zurückzusinken, ein faszinierendes Psychogramm einer Welt im Ausnahmezustand, in der nichts mehr ist, wie es war.
Wie ein Gegenstück dazu wirkt eine Choreographie, die Hans van Manen bereits 1996 geschaffen hatte, also längst vor Corona. Solo heißt das Stück, von der Form her also ideal für die momentane Zwangssituation, doch hintersinnig wie so oft konterkariert van Manen die Vorstellungen von einer solchen Eintänzerform. Seine Arbeit ist ein Solo für drei Tänzer, und bleibt doch ein Solo. Immer wieder lösen sie sich auf der Bühne ab, rasen elegant und verspielt über die Bühne, scheinen das, was der Vorgänger gezeigt hatte, zu wiederholen und sind doch ganz eigene Tanzwesen.