Jahr für Jahr nehmen etwa 10.000 Musikbegeisterte die nicht ganz unbeschwerliche Reise in eine deutsche Provinzstadt am Rande des Schwarzwaldes in Kauf. Ziel ist das weltweit älteste und traditionsreichste Festival für Neue Musik, die Donaueschinger Musiktage. Seit ihrer Gründung 1921 stehen sie für alle neuen, experimentellen Formen auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik und Klangkunst, sie sind Forum für Gegenwartskomponisten und auch ein etwas mythischer Ort – hier wurde und wird noch immer Musikgeschichte geschrieben. Festivalleiter Armin Köhler gewährt uns einen Einblick in die Entwicklung des Festivals und ein spannendes neues Kunstkonzept.
Neue Musik, und die Komponisten Neuer Musik, rufen oft starke, teils negative Reaktionen beim Publikum hervor. Welche Reaktionen haben Sie im Rahmen des Festivals erlebt, und wie kann eine Institution (im Gegensatz zum Komponisten selbst) besonders mit Ablehnung und Negativität am effektivsten umgehen?
Unsere Besucher kommen positiv gestimmt und mit hohen Erwartungshaltungen nach Donaueschingen, und sie alle sind neugierig auf die neuesten kompositorischen Ideen und ästhetischen Trends aus aller Welt, die sie bei uns präsentiert bekommen. Die Musiktage sind eine Messe des Neuen, heute wie vor 90 Jahren. Unser Publikum besteht zu etwa 40% aus Fachleuten aus Rundfunk, Presse, Hochschulen oder Veranstaltungsagenturen, die ihre Erfahrungen bei den Musiktagen in die Welt hinaustragen. Der Großteil der Gäste besteht aus allgemeininteressierten Hörern aus aller Welt, denen es ein Bedürfnis ist, sich mit neuen Klängen und Erfahrungen auseinanderzusetzen. Die Musiktage sind das einzige Festival, das ausschließlich Weltpremieren vorstellt, die von uns (dem SWR) in Auftrag gegeben und produziert werden.
Scheitern ist dabei ein Teil des Konzeptes, und es ist verständlich, dass nicht alle uraufgeführten Werke ein Erfolg sind. Da wir eine sehr hohe finanzielle Förderung genießen, dürfen (ja müssen) wir ungehindert experimentieren. Erfolg ist ein hohes Gut. Werke, die nicht sofort auf das Interesse des Publikums stoßen, haben aber einen hohen katalysatorischen Wert und sind daher genauso wichtig wie die vermeintlich „erfolgreichen“ Stücke.
Sind Skandale um zeitgenössische Musik heutzutage weniger häufig, und aus welchem Grund?
Richtige Skandale sind heute nicht mehr so häufig, weil die großen „Kämpfe“ ausgefochten sind. Das Geräusch ist als paritätischer Klang längst anerkannt, die Kunst als solche schon mehrfach in Frage gestellt, neue Präsentationsformen längst in allen Varianten ausprobiert. Zudem ist die Toleranzschwelle des Publikums heute viel höher als noch vor 25 Jahren. Würden Sie sich heute von einer Komposition aus dem Konzept bringen lassen, nur, weil sie orgiastisch neue Musikformen feiert, wie es dereinst Strawinskys Sacre tat?
Wie würden Sie als Leiter des ältesten Festivals zeitgenössischer Musik beschreiben, wie sich die Einstellung gegenüber neuer Musik verändert hat? Und wie hat sich im Vergleich zu vor 50 Jahren die Notwendigkeit geändert, Neue Musik voranzutreiben und publik zu machen ?
Das Publikum ist insgesamt viel aufgeschlossener und auch differenzierter geworden; es gibt längst nicht mehr „das“ Neue-Musik-Publikum, sondern eines für experimentelle Konzertmusik, ein Publikum für Klangkunst, eines für Installationskunst, eines für akademische Neue Musik,... Häufig gibt es gemeinsame Schnittmengen zwischen den Angeboten, aber letztendlich weiß man sehr genau, wo man was erwarten kann, und vor allem was man gerne hören möchte. Man wählt viel selektiver aus. Zudem hat das Publikum eine extrem gute Vorstellung von Qualität – kompositorisch wie interpretatorisch. Man lässt sich nicht so einfach „irgendetwas“ vorsetzen.
Das hat natürlich auch Einfluss auf die Vermittlung von Neuer Musik, man muss didaktisch ganz anders ansetzen. Wir werden daher Mitte Mai des kommenden Jahres einen kleinen Festival-Bruder in die Welt setzen. Unter dem Namen „upgrade“ werden wir innerhalb eines Festivalkongresses Vermittlungsformen von Neuer Musik präsentieren, die Musikvermittlung als ein ästhetisches Phänomen begreifen. Es geht um Kompetenz, um Kreativität, um Offenheit und Selbsterfahrung. Zielgruppen sind Musikvermittler, Lehrer in allen Schulformen, junge Interpreten und Komponisten (noch im Schulalter!), aber auch Musikstudenten.
Welche Rolle spielen die Musiktage dabei, neben dem Bieten einer Plattform für etablierte Komponisten auch die Entwicklung von jungen Talenten zu fördern?