Ungewöhnlich ist es, dass ein Sommerfestival in den Schweizer Alpen mit der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach eröffnet wird. So geschah es jedoch am Gstaad Menuhin Festival, das am vergangenen Wochenende begann und bis zum 2. September dauert. Die Wahl des Werks hängt mit dem etwas schwammigen Motto „Demut” der 67. Ausgabe des Festivals zusammen. Intendant Christoph Müller versteht darunter einerseits die geforderte Haltung gegenüber der Natur im Zeichen des Klimawandels, aber auch den geschuldeten Respekt gegenüber den grossen Komponisten der Vergangenheit. Ganze 22 Konzerte stehen unter dem Label „Demut und Vorbilder”, wobei die Verneigung vor Bach eine zentrale Rolle spielt.
Die Ehre des Eröffnungskonzerts fiel der Gaechinger Cantorey aus Stuttgart und ihrem Dirigenten Hans-Christoph Rademann zu. Trägerin des Ensembles ist die 1981 von Helmuth Rilling gegründete Internationale Bachakademie Stuttgart. Mit seiner Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart setzte Rilling seinerzeit Massstäbe für eine Bach-Interpretation, die nicht auf der historisch informierten Aufführungspraxis beruhte. Rademann, seit 2013 Rillings Nachfolger als Leiter der Bachakademie, hat drei Jahre später den Namen des Ensembles in die altertümelnden Bezeichnung Gaechinger Cantorey umgewandelt, die nun neben dem Chor auch das neu gebildete Barockorchester umfasst.
Die spätgotische Kirche Saanen, wo das Eröffnungskonzert des diesjährigen Gstaad-Festivals stattfand, bot für Bachs Summum Opus einen spirituell und stimmungsmässig würdigen Rahmen. Die Platzverhältnisse auf dem Podest sind indes extrem eng, so dass die Ausführenden mit einem zahlenmässigen Minimalaufgebot angereist waren. Gerademal 19 Sängerinnen und Sänger zählte der Chor, wobei die fünf Solisten auch bei den Chornummern mitwirkten. Eng nebeneinander sassen auch die Orchestermitglieder, die bei den Streichern in Viererbesetzung (vier erste Violinen) auftraten. Überdies stellten die sommerliche Hitze und die grosse Luftfeuchtigkeit insbesondere für die Streichinstrumente mit ihren Darmsaiten eine echte Herausforderung dar.
Wer die Bach-Aufführungen Rillings – seine letzte Einspielung der h-Moll-Messe mit der Gächinger Kantorei datiert von 2011 – noch im Ohr hat, kann sich keinen grösseren Gegensatz zu Rademann und seiner heutigen Cantorey vorstellen. Klang die Missa bei Rilling im Nachgang zur Tradition des 19. Jahrhunderts wuchtig, pathetisch, streicherdominiert, in den langsamen Teilen zerdehnt, so bewegt sich Rademann in Umfeld der heutzutage angesagten historisch informierten Aufführungspraxis. Das Instrumentarium besteht aus alten beziehungsweise nachgebauten Instrumenten, die Darmsaiten der Streicher vermitteln einen intimen Klang, die Holz- und Blechinstrumente verströmen eigenwillige, charakteristische Farben. Auch die von Rademann bevorzugten schnellen Tempi und die deutliche Artikulation der musikalischen Phrasen sind heute Common Sense.
Was sind denn die Besonderheiten der Stuttgarter? Ein auffälliges Kennzeichen ist eine Dramaturgie, die der Lautstärke-Veränderung eine grosse Bedeutung beimisst. Die Chorsätze lässt Rademann gerne mit den Solisten beginnen, dann gesellen sich fast unmerklich die Chorstimmen hinzu. Die Sätze bewegen sich in einem wellenartigen Auf und Ab, meistens gib es irgendwo einen kräftigen Höhepunkt. Bisweilen aber wirkten die dynamischen Eingriffe etwas manieriert, beispielsweise am Schluss des Crucifixus, wo die Textstelle „passus et sepultus est” im dreifachen Piano und mit einem unendlich lange ausgehaltenen G-Dur-Akkord endete. Das zweite Kennzeichen Rademanns ist die raffinierte Ausbalancierung der vokalen und der instrumentalen Elemente. Exemplarisch trat dies im Duett Domine Deus zutage, wo sich die Sopranistin I und der Tenor mit der ersten Flöte und der ersten Violine zu einem wunderbaren Quartett vereinigten.