Dass die Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko im Juni 2015 zu ihrem Chefdirigenten wählten, war insofern überraschend, als er bis dahin nur dreimal in Berlin bei einem philharmonischen Konzert am Pult stand – im Unterschied zu seinem Vorgänger Simon Rattle, der das Orchester vor seinem Antritt 2002 häufig geleitet hatte. Dem Berliner Publikum ist Petrenko aber aus dessen Zeit von 2002 bis 2007 als Generalmusikdirektor der Komischen Oper gut bekannt.
Eröffnet hat er sein mit großer Spannung erwartetes Konzert mit Mozarts „Haffner-Symphonie“ aus dem Jahre 1782. Schon der 22-jährige Komponist betonte seinem Vater gegenüber, dass er „so ziemlich alle art und styl vom Compositions annehmen und nachahmen“ könne und perfektionierte dieses Talent im Laufe seines Lebens zu einer Meisterschaft in der Kombination entfernter Gattungen und Stilebenen. Kirill Petrenko ist bekannt dafür, bis zum letzten Moment zu proben und am Orchesterklang zu feilen. Dass er darum weiß, wie sorgsam Mozart den Kontrapunkt hinter der galanten Fassade seiner Musik versteckte, spürte man in jedem Takt seines Dirigates, auch wenn sich ganz zu Beginn beim explosiv intonierten Hauptthema eine Nervosität im Zusammenspiel doch nicht ganz überhören ließ.
Dank seines kammermusikalisch orientierten Klangideals war jedes Einzelinstrument auch dann zu hören, wenn die Stimmen im Akkord zusammenklangen. Ganz großartig gelang ihm die fast geometrische Nachzeichnung der ineinander verhakten Stimmführung zu Beginn der Durchführung. Darüber hinaus wusste Petrenko Mozarts Verknüpfung von „gelehrtem“ und „galantem“ Stil auf das Sorgfältigste zu durchleuchten und so einen Diskurs zu entfalten, der einer Nach-Komposition des Satzes glich.
Dem folgte ein Werk des amerikanischen Komponisten John Adams, der in dieser Saison Composer in Residence des Orchesters ist. The Wound-Dresser für Bariton und Orchester von 1965 ist auf Teile aus Walt Whitmans gleichnamigem Gedicht komponiert, das vom Elend der Soldaten handelt, die in dem zwischen den Süd- und den Nordstaaten geführten Sezessionskrieg (1861 bis 1865) verletzt wurden. Whitman arbeitete als Sanitäter im Lazarett und hielt seine Eindrücke in diesen Versen fest. Adams vertonte nicht das vollständige Gedicht, sondern nur die Abschnitte, die dem Rückblick gewidmet sind.
Die Gegenüberstellung körperlichen Gebrechens und spiritueller Transzendenz ist in Adams Musik ganz zu Gunsten der Letzteren ausgefallen. Wer heftige Dissonanzen erwartete, sah sich getäuscht. Im Text heißt es: „ … und begnügte mich damit, bei den Verwundeten zu sitzen und ihren Schmerz zu lindern, oder still die Toten zu betrachten.“ Selbst der Anblick eitriger Wunden ließ als Gefühlsaufwallung lediglich das Tremolo der Streicher anschwellen.; sonst herrscht eine Atmosphäre vor, die Erinnerungen nachsinnt, aber keine Leiden hörbar macht. Höhepunkte setzen die von Konzertmeister Daishin Kashimoto vorzüglich vorgetragenen Solopartien; Petrenko entlockte den Philharmonikern zerbrechlich-leise Klänge, die als Echo des Erlittenen in ihrer verhaltenen Schönheit den Textworten entgegenstehen. Der bei den Philharmonikern debütierende Bariton Georg Nigl trug sie mit klarer, diskreter Stimme fast wie als Sprechgesang vor, was den Text gut verstehen ließ und dessen Ton abgelittener Klage gut mit dem Orchester zusammenpasste, das dieses Werk nie zuvor aufgeführt hatte.