So einige verschiedene Fassungen seines Don Carlo(s) hat Giuseppe Verdi im Laufe seines Lebens zu Papier gebracht; darunter die ursprüngliche, fünfaktige Version in französischer Sprache, die in den letzten Jahren eine Wiederauferstehung erlebt und die weitaus häufiger gespielte italienische Fassung in vier Akten. Dass in dieser gekürzten Version einige – durchaus relevante – Handlungsstränge den Kürzungen zum Opfer gefallen sind, stört zwar die Logik des Stückes, aber an mangelnder Plausibilität stört sich der Opernfreund ohnehin selten.
So ignoriert man dann auch geflissentlich, dass Elisabetta an diesem Abend an der Oper Graz die vermeintlich gestohlene Schatulle schon längst gesehen haben muss, bevor Philipp sie erwähnt oder dass Posa bereits eine Schusswunde hat, als er zu Carlo in den Kerker kommt. Denn abgesehen von diesen Ungereimtheiten erledigt die Inszenierung von Jetske Mijnssen ihre Aufgabe gut: Sie interpretiert nicht radikal neu, sondern arbeitet die alles erdrückende Macht von Konvention, Kirche und Zeremoniell beklemmend heraus. Bis auf Eboli sind alle Figuren psychisch am Ende und im Lauf des Abends gibt es viele Leichen; Don Carlo ist ohnehin von Beginn an suizidal und schlitzt sich schließlich die Pulsadern auf, Elisabetta vergiftet sich selbst (eine Interpretation, die erstaunlich gut mit dem Text harmoniert!), Posa stirbt librettogetreu und bei Philipp kann es auch nicht mehr lange dauern, bis er einen Nervenzusammenbruch erleidet. Dazwischen gab es beim Autodafé noch einige blutverschmierte Gefolterte mit Wunden – die übrigens erschreckend echt aussahen, Kompliment an die Maske! – zu sehen. Das Bühnenbild von Gideon Davey vermittelt die Enge des spanischen Hofes durch einen kleinen holzgetäfelten Einheitsraum mit flexiblen Zwischenwänden; die präzise Personenregie konzentriert sich mehr auf die Abgründe der einzelnen Figuren als auf ihre Beziehungen zueinander und erzielt so den Effekt, dass sie neues Licht auf bisher verborgene Facetten warf. Darstellerisch umgesetzt wurde diese Lesart der Regisseurin durch alle Sänger gleichermaßen gut, die in der Probenphase erarbeiteten psychischen Macken und Unsicherheiten der Figuren mit sich selbst und im Umgang untereinander stellte das Ensemble überzeugend dar. In Bezug auf die vokale Gestaltung präsentierte sich das Ensemble allerdings inhomogener; großen Genuss boten vor allem die tieferen Stimmlagen.
Intriganten Charme verkörperte Oksana Volkova, deren Prinzessin Eboli als einzige der Figuren nicht am Rande des Wahnsinns schrammte, sondern dem höfischen Zeremoniell jugendliche Frische und Lebenslust verlieh. So versprühte die Schleierarie dann auch viel Esprit; ihren dunkel schimmernden Mezzo konnte sie naturgemäß später bei „O don fatale“ noch effektvoller einsetzen. Diese Chance packte Volkova dann auch beim Schopf und sorgte mit voller Tiefe, strahlenden Spitzentönen und pointierter Attacke für euphorischen Szenenapplaus. Nicht minder beeindruckend gestaltete Neven Crnić die Rolle des Marquis von Posa. Mit seinem einfach wunderschön timbrierten Bariton, der (im positiven Sinne!) älter, gereifter und geschliffener klingt, als es das junge Alter des Bosniers vermuten ließe, hinterlässt er mächtig Eindruck und auch der kluge Einsatz der Stimme sowie die Verbindung von Gesang und Spiel beeindruckte. Royales Flair verströmte der finnische Bass Timo Riihonen, der die innere Zerrissenheit von Philipp in bruchlos strömende Phrasen goss und mit seinem warmen Timbre den idealen Kontrast zum frostig timbrierten Großinquisitor von Dmitrii Lebamba bildete.