Man kann sich gut hineinversetzen in das Bangen der Verantwortlichen um Intendant, Regisseur und Sänger Max Emanuel Cenčić, seinen Manager Georg Lang und George Petrous Ensemble Armonia Atenea, die die neu erstandenen Opernfestspiele Bayreuth Baroque in bewährter Parnassus-Teamleistung künstlerisch schmeißen, ob sie überhaupt stattfinden. Die Erleichterung war groß, dass das opulent-schmucke Opernhaus seine Türen öffnen durfte, um Schauplatz für das Festival in der Stadt zu sein, das sich neben der Wagnermania als internationales Barockpendant in passender, musikhistorisch bedeutender Kulisse angemessen etablieren soll. Zur Premieren-Premiere stand das 1738 uraufgeführte Drama der erbrechtlichen Verwerfungen in der Nachfolge Karls des Großen von Nicola Antonio Porpora auf der Bühne, natürlich im Brennglas der familiären Spannung und weiterer opernnützlicher Gegebenheiten.
Carlo il Calvo ist ein Nachzügler aus zweiter Ehe in der karolingischen Erbengemeinschaft Ludwigs des Frommen, dem Sohn des kaiserlichen Groß-Karls. Der Alleinherrscheranspruch zeigende Lothar entführt den zum Tatzeitpunkt noch minderjährigen Halbbruder, um dessen von (Stief-)Mutter Judith erzwungenen Anteile im fränkischen Reichsverbund zu erpressen. Helfende Hand dabei ist Asprando, gleichzeitig in Diensten Judiths, deren Tochter aus erster Ehe, Gildippe, wiederum mit Lothars Sohn, Adalgiso, verheiratet werden soll. Die Ahnung drängt sich auf: das kann nicht gut gehen! Das muss so sein, damit es die typisch positive Wendung geben kann. Dergestalt, dass Judith Intrigen als solche enttarnen und unterstützt von ihren Schwiegersöhnen ihren Filius befreien und Lothar in die Schranken verweisen kann.
Was macht man aus dieser finsteren Absurdität im barocken Operngewand? Im Ergebnis eine doch ziemlich gelungene Zusammenführung von schöner Szenerie, Effekten, der Verwertung von Abstrusem und Ausformung der handelnden Charaktere bar jedes stumpfen Musters zwecks Nachvollziehbarkeit ihrer Motive. Cenčić beschränkt sich in seiner Regie der Ungeheuerlichkeiten nämlich nicht im Mindesten darauf, die Geschichte originalgetreu in den Staub der letzten zig Jahrhunderte zu verfrachten, sondern verpflanzt die Fehde in die vorsozialistisch-mondäne Retrospektive einer sich konservativ gebenden kubanischen Drogenboss-Familie. Eine passende Wahl, entbehrt die Assoziation von totaler Verquickung, familärem Kodex, ständigen Machtschachereien sowie makabren und personifizierten Fragwürdigkeiten gewiss nicht der tatsächlich verrückten Grundlage. Unter dem Preis der zwar manchmal vom Wesentlichen ablenkenden Bebilderung staffierte der Regisseur dabei das verquere Clan-Stadl mit einer sippenhaft hinzugedichteten Reihe von Statisten aus, die allerdings auch Luftleere verhinderte und Kontext schuf.
Als Bösewicht Lottario verkörperte Cenčić einen von Hass erfüllten Patriarchen, der seinen Sohn als Idioten bezeichnet und das Ehebruch-Gerücht um Judith zum Vorwand seiner Besessenheit nimmt. Dabei lebt er schließlich noch hinter der Fassade eine Liebschaft zu Asprando aus, die zum lieto fine und dem Ableben seines Günstlings erklärt, warum er so gebrechlich ist und plötzlich Einsicht von Schuld zeigt. Beschlich mich der Verdacht, hier könnte dem Tyrann zu viel der menschlichen Verständigung zuteil werden, starb er zum Finalton den Tod seines Vaters. Sängerisch präsentierte sich der Countertenor von Beginn an rund und geschmeidig, also zielsicher (selbst-)gefällig, um ihm das bewusst herrschende Bild vom gut gekleideten, mächtigen El Jefe abzunehmen, der auf seine gerissene Erfahrung – in langsamer wie schneller Arien-Geste – vertraut.