„Da ich so glücklich war zu überleben, nicht ausgelöscht wie meine Eltern und meine Schwester, möchte ich jeden Tag, den ich leben darf, dafür widmen, dass ich durch mein Komponieren dafür mich bedanke, dieses Geschenk zu haben.“ Mieczysław Weinberg, mit jüdischen Wurzeln 1919 in Polen als Sohn eines Musikers geboren, studierte bereits mit 12 Jahren Klavier am Konservatorium der Musikakademie Warschau. Der deutsche Überfall auf Polen 1939 veranlasste ihn, überstürzt nach Moskau zu emigrieren, dann in Minsk die Studien fortzusetzen. Nur Stunden nach seinem Examen dort musste er, bedingt durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion, erneut fliehen, dieses Mal nach Taschkent. Auf Dmitri Schostakowitschs Einladung kehrte er 1943 nach Moskau zurück, wo er in der Stalinzeit und danach unter den wechselnden Vorgaben des Kultusministeriums und wegen seiner jüdischen Herkunft leiden musste. Schostakowitsch blieb lebenslang sein Freund und Mentor.
Ein Leben auf der Flucht und in Herabwürdigung seiner kompositorischen Leistung, in dem seinen 500 Werken nur selten Erfolg beschieden war. Dass ihn viele Russen indirekt doch kannten aus seiner Musik zur Trickfilmserie Winni Puch, erscheint nachträglich wie Ironie des Schicksals. Vereinsamung ergriff ihn mit zunehmender Emigration von Freunden wie Rostropovich, weil diese seine Werke nicht in den Westen mitnahmen.
Die Passagierin, 1968 erste seiner sechs Opern, setzt sich explizit mit dem Holocaust auseinander. An ihr hat er die längste Zeit gearbeitet, der Bezug zu Auschwitz war für ihn ein ganz bedeutendes Lebensthema: ein Versuch, sein Lebenstrauma zu bewältigen. Die Oper wird dabei nie kitschig oder vordergründig effekthaschend; Weinberg und das Libretto von Alexander W. Medwedew, nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman Pasażerka von Zofia Posmysz (2022 verstorben), haben immer eine gewisse Distanz als Erzähler der Geschichte.
Lisa, ehemalige SS-Aufseherin, die mit ihrem Mann Walter gerade auf einem Passagierschiff in Richtung Brasilien unterwegs ist, trifft auf Marta, eine tot gewähnte Auschwitz-Überlebende. Ob dies Realität ist oder eine Vision, die sich in Lisas Kopf abspielt, bleibt absichtlich unklar. Walter, unterwegs zum diplomatischen Einsatz in Südamerika, sieht seine Karriere gefährdet; es kommt zu heftigem Streit, in dem Lisa immer wieder ihre eigene Erinnerung an Pflichterfüllung und Szenen gutgemeinten Helfens für Marta, deren Freund, den Geiger Tadeusz, und weitere weibliche Mithäftlinge schönredet. Im zweiten Teil der Oper vermischen sich die Handlungsstränge in Lisas Erinnerung, wenn Momente aus Galadinners auf dem Schiff mit Lagerszenen changieren, in denen Kommandant und Aufseher des KZ Häftlinge brutal verprügeln. Tadeusz, der auf Anweisung des Kommandanten dessen Lieblingswalzer spielen soll, weigert sich, spielt stattdessen Bachs Chaconne – ein Augenblick, in dem die Geschichte ihren Atem anhält.
Erst 2010 kommt es in Bregenz zur ersten szenischen Aufführung; seitdem hatte ein Dutzend Bühnen das Werk auf dem Spielplan. An der Bayerischen Staatsoper hat der Regisseur Tobias Kratzer, dessen Tannhäuser in Bayreuth Besuchermagnet ist, mit dem Münchner Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski eine Neuinszenierung vorgestellt, die ebenso heiß gefeiert wie diskutiert wird. Beide verzichten auf Visualisierung der Gräueltaten im Konzentrationslager, da die direkte Darstellung von Auschwitz problematisch ist, rücken Lisas Gedächtnis und ihren Umgang mit ihren Erinnerungen ins Zentrum. Diese Täterinnen-Perspektive ist nicht weniger nervenaufreibend: Lisa steht im Mittelpunkt, sie wird von allen unter Druck gesetzt, bedrängt. Dazu wird die Spiegelung beider Paare intensiv beleuchtet: die innig kostbaren Momente von Zweisamkeit und Erotik zwischen Marta und Tadeusz gegen den gesellschaftlich erkämpften Aufstieg von Walter und Lisa, die sich zudem noch gegenüber Marta neidvoll als übergriffig zeigt. Dass eine gealterte Lisa (berührend Sybille Maria Dordel), mit des toten Walters Asche in einer Urne, Lisa wie ein Schatten begleitet, ihr Agieren auf dem Dampfer wie ein sprachloses Gewissen kommentiert, ist ein kostbarer Regieeinfall.