Unbeschreiblich schön. Wenn man als Rezensent mit diesem Eindruck ein Konzert verlässt, dann sieht man sich einer gewissen Herausforderung gegenüber. Der Liederabend, den Christian Gerhaher gemeinsam mit seinem Klavierpartner Gerold Huber am 27. April im ausverkauften Haus der Münchner Staatsoper gab, war solch ein Konzert.
Zwei Künstler auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Reife mit einem der schönsten Liedzyklen, die je komponiert wurden: Die schöne Müllerin von Franz Schubert. Die einzige Liedsammlung, die der schönen Müllerin den ersten Platz auf dem Kunstlied-Olymp streitig machen könnte, ist vermutlich Schuberts Winterreise. Welch ein seltenes Glück, dass das kongeniale Duo auch diesen Zyklus am Donnerstag, den 30. April, in der Münchner Staatsoper interpretieren wird.
Viele Konzertbesucher hatten gleich beide Abende gebucht, und auch die Einführung in die Werke fand vor voll besetzten Rängen statt. Bereits hier wurde der außergewöhnliche Charakter der bevorstehende Musikerlebnisse deutlich und man wusste nicht so Recht, ob man sich an die ehrfürchtigen Pilgerreisen treuer Wagnerianer zu den Bayreuther Festspielen erinnert fühlte oder doch eher an ein modernes „Happening“, so munter und entspannt stimmten sich die Verehrer des Schubert‘schen Kunstlieds auf den kollektiven Kunstgenuss ein.
Wie lässt sich nun ein unbeschreiblich schönes Musikerlebnis dennoch in Worte fassen? Glücklicherweise liefert Christian Gerhaher selbst im Programmheft eine kluge und differenzierte Einführung in die Liedzyklen Franz Schuberts, die als erster Anhaltspunkt dienen kann. Er unterscheidet bei seiner Deutung zwischen einem biographistischen Ansatz bei der Winterreise und einem psychologischen Annäherungsversuch an die schöne Müllerin. Gerhaher ließ sich bei seiner hermeneutischen Spurensuche von dem Psychiater Albert Zacher beraten, auf dessen Thesen sowohl im Textbuch als auch bei der Einführung mehrmals Bezug genommen wurde.
Demzufolge leide der naive Bursche, der sich in die begehrenswerte Müllerstochter verliebt, an einer akuten „Liebespsychose“; eine Krankheitsbeschreibung, die Zacher eigens für diesen fiktiven Patienten eingeführt hat, um sich nicht in diagnostische Schemata zwängen zu müssen. Der tragische Protagonist beschreibt in einem 22 Gedichte währenden Monolog seine Emotionen, die ihn derart überwältigen, dass er sie wahnhaft auf symbolische Stellvertreter projiziert. Bereits in den ersten Strophen wird so ein komplexes Geflecht metaphorischer Sinnbilder erschaffen.
Der Bach, sein eigenes Alter Ego, führt ihn zur Mühle, wo er sich in die Müllerin verliebt, die jedoch wiederum dem Jäger zugetan ist. Um diesen Konflikt zu bearbeiten, führt der Müllersbursche „Selbstgespräche“ mit dem Bach (z.B. Danksagung an den Bach und Der Neugierige), grüßt die Blumen stellvertretend für die Müllerin (Morgengruß) und fordert den Jäger auf, die Eber zu erschießen, die ihn, den Jäger selbst repräsentieren (Der Jäger). Als es ihm dann im zehnten Lied Tränenregen endlich gelingt, die Geliebte zu einem Stelldichein an den Bach zu locken, bringt er vor Aufregung kein Wort heraus. Die Müllerin zieht gelangweilt von dannen, der dramatische Gipfel des Zyklus ist erreicht und das Schicksal nimmt zehn weitere Lieder seinen Lauf. Es bleibt nur der Suizid. Dieser finale Freitod schließlich ist wohl der beste Beweis, dass der bedauernswerte junge Mann an einer wahrlich lebensgefährlichen Seelenkrankheit litt.