Es gibt noch eine Steigerung zum Begriff „Gefangensein“, und der heißt „Ausweglosigkeit“, und genau ihn inszeniert Regisseurin Andrea Breth an diesem Musiktheaterabend mit dem Bühnenbild von Martin Zehetgruber in einer Koproduktion mit La Monnaie | De Munt in Stuttgart – und das, noch ehe die eigentliche Hauptfigur, der titelgebende Gefangene zu sehen und zu hören ist. Denn Luigi Dallapiccola lässt zunächst die einzig Freie in seiner Kurzoper auftreten, die Mutter des Inhaftierten, die bereits weiß, dass sie ihren Sohn nun zum letzten Mal wird sehen dürfen.
Aber auch sie ist bereits vom System denaturiert, ihrer vollen Individualität beraubt. Wir sehen nur ihr von einem Scheinwerfer erhelltes Gesicht, mehr nicht. Und auch ihr Sohn, der Gefangene, ging bereits seiner Persönlichkeit verlustig. Nach einem kurzen Resümee seiner Situation spricht er das Wort aus, mit dem der Kerkermeister sich in sein Vertrauen geschlichen hat: „Bruder“, und Georg Nigl, dieser grandiose Psychologe unter den Opernsängern von heute, sang es nicht mit seiner baritonalen Stimme, sondern als Zitat, mit leichter Kopfstimme, denn sein Wärter ist Tenor. So macht diese Inszenierung von Anfang an deutlich, dass diesem Gefangenen nicht nur seine Freiheit geraubt ist, sondern auch sein eigenes Ich. Über weite Strecken zitiert der Gefangene die Einflüsterungen seines Aufsehers, und Andrea Breth macht in Körperhaltung und Personenkonstellationen dieser beiden Figuren deutlich, dass der Wärter zur vielleicht subtilsten Folter gegriffen hat: Er weckt im Gefangenen Hoffnung, ohne dass dazu Berechtigung bestünde.
Dabei verliert auch er seine eigene Persönlichkeit. Der Tenor John Graham-Hall flüsterte, säuselte, verführte mit einem Reichtum an Stimmen, ohne dass man erkennen hätte können, welche wirklich sein eigenes Ich war. Was diese beiden Sänger an stimmlichen Nuancen zustandebrachten, ist ein ganzes Orchester an Klangfarben, bei denen vor allem Nigl vom Flüstern zum Schreien alle Ausdrucksformen zum Einsatz brachte. Selbst wenn er scheinbar nur sprach, das Wort „hoffen“ beispielsweise, dann war es Musik, die den Zuhörer stets frösteln machte. Zu einer solchen Ausdrucksvielfalt inspirierte auch Dirigent Franck Ollu das Staatsorchester.
Durch kurze Blackouts teilt Andrea Breth das Geschehen in kurze Szenen auf. In diesen Schwarzpausen wechseln die beiden Darsteller ständig ihre Positionen. Auf diese Weise drängt sich der Eindruck auf, dieser Gefangene sei ohne jegliche Orientierung, habe den Boden unter den Füßen verloren, als schwebe er im Ungewissen – zwischen Hoffnung auf Freiheit und Ahnung des sicheren Endes.
Ähnlich ambivalent ist die Situation in Wolfgangs Rihms „nächtlicher Szene“ Das Gehege, für die er den abschließenden Monolog aus Botho Strauss' Drama Schlusschor wählte. Auch dieses Stück changiert zwischen Freiheitsversprechen und letztendlichem Tod, nur dass hier das Freiheitsversprechen der Protagonistin im Unterschied zu dem von Dallapiccolas Kerkermeister anfangs ehrlich gemeint ist. Eine Frau schleicht sich in einen Zoo ein, um einem Adler die Freiheit wiederzugeben. Was sich hier entwickelt, ist nicht ein temporäres, erschlichenes Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren, sondern ein abstruses sexuelles Spiel von Anziehung und Abstoßung. Rihm komponierte das Stück als Ergänzung zu Richard Strauss' Salome. Es ist gewissermaßen ein satirischer Kommentar zu Salomes Schlussgesang, in dem die babylonische Prinzessin dem Kopf des Geliebten in einer Mischung aus Hohn und noch vorhandenem Begehren einen Kuss abringen will.