„Es geht um Krieg, um Mord, und eine verfluchte Familie“ – so bringt Regisseur Torsten Fischer die Geschichte der Atriden auf den Punkt. Agamemnon opfert Iphigénie, neben Elektra und Chrysothemis eine gemeinsame Tochter aus seiner Ehe mit Klytämnestra, in Aulis dem Kriegsglück – soweit die Handlung von Glucks Iphigénie en Aulide von 1774/1775. Klytämnestra, der er schon den ersten Mann und dessen Kind getötet hat, schlägt zurück, und zwar mit dem Beil im Bad. Ihr Sohn Orestes erschlägt wiederum aus Rache für den Vater die Mutter und landet als Schiffbrüchiger und von Rachegöttinnen verfolgt mit seinem Gefährten Pylades auf Tauris, wohin Diana Iphigénie gerettet hat.
Was sich dort zuträgt, davon handelt Iphigénie en Tauride von 1779, Glucks größter Erfolg zu Lebzeiten; sie galt und gilt durch den Verzicht auf die musikalischen Manierismen des Barock sogar als Reformoper, wiewohl Gluck beim Inhalt konservativ blieb: Am Ende erscheint, noch in der Tradition eines Händel, ein deus ex machina und sorgt für ein glückliches Ende. Das ist für ein modernes Publikum wenig nachvollziehbar, weshalb wohl in der vorliegenden Inszenierung das Glück Utopie bleibt, auch wenn alle vom Tod bedrohten letztlich nicht von ihm eingeholt werden.
In der Verbindung der beiden Gluck-Iphigénien, die Fischer mit seinem musikalischen Leiter Leo Hussain erarbeitete, ist die Iphigénie in Aulis eine andere Person als jene auf Tauris. Das ergibt einserseits wegen ihres neuen Lebens nach dem (vermeintlichen – oder doch tatsächlichen?) Opfertod Sinn; andererseits kann so die jeweils andere Sängerin die Mini-Rolle der Diana übernehmen und auf Tauris die erwähnte dea ex machina als Spiegelung der Aulis-Iphigénie geben. Gelungen ist auch die Verbindung der beiden Opern mit Mündung des ersten Schlusses direkt in die Sturm-Ouvertüre der zweiten. Sehr abrupt – wie Werbung im spannendsten Moment eines Fernsehkrimis – fällt dafür nur Momente später der Pausenvorhang.
Weitere große Freiheiten nahm man sich überwiegend beim Aulis-Teil, wo viel gekürzt und Szenen teilweise neu angeordnet wurden. Das lag vielleicht auch daran, dass die Inszenierung der Iphigénie en Aulide desselben Regisseurs am selben Haus 2012 viel kritisiert wurde. Bei seiner Tauride-Iphigénie aus dem Jahr 2010, die man zu den Sternstunden im Wiener Opernleben zählen darf, gab es nur geringe Kürzungen, dafür wichen die fast raumfüllenden Ikonen im Bühnenbild dem klinischen Weiß jenes Labyrinths aus Mauern und Jalousien, welches nun beide Opern verbindet. Die wesentlichen Regie-Ideen aus 2010, insbesondere die alptraumhaft immer wieder auftauchenden Leichen der Ermordeten, wurden beibehalten und der Aulis-Teil im Hinblick auf diese Fortsetzung umgestaltet. Erfreulicherweise wurde zusätzlich das Spannungsfeld der öffentlichen und privaten Interessen von Herrschern, wie sie Gluck auch in seiner Alceste thematisierte, mit den intelligent gestalteten Volksszenen (wie immer überragend: der Arnold Schoenberg Chor) spürbar.