Ich muss dieser Kritik vorausschicken, dass ich dem Ansinnen, vorbarocke Musik auf dem modernen Konzertflügel zu spielen, kritisch gegenüberstehe: hier geht nicht nur die spezifische Artikulation barocker Tasteninstrumente verloren, sondern auch der Farbenreichtum barocker und älterer Stimmungen. Anderseits ist der Zugang zu historischen Aufführungen dieser Musik nur in kleinem Rahmen und für ein begrenztes Auditorium möglich, und in der Musikszene ist das ein Nischenmarkt; von daher ist eigentlich jeder Versuch zu begrüßen, alte Musik wieder zu beleben und damit vielleicht Interesse zu wecken für eine eingehendere Beschäftigung mit „wirklich historischen“ Aufführungen.
Der junge, taiwanesisch-amerikanische Pianist Kit Armstrong bedarf keiner Vorstellung: er ist eine seltene Früh- und Ausnahmebegabung, nicht nur als Pianist und Komponist, sondern auch mit seinen breit gestreuten Gaben im Bereich der Sprachen und der Naturwissenschaft. Kit Armstrongs Spiel zeugte von guter Kenntnis und Vertrautheit mit barocker Verzierungspraxis; seine Ornamente (Triller, Praller,Mordente, etc.) waren elegant, meist unauffällig und gut eingepasst, vielleicht manchmal etwas oberflächlich oder zu beiläufig, wenn man in Betracht zieht, dass historische Instrumente kaum Möglichkeiten bieten, Verzierungen unauffälliger zu machen als die Hauptnoten.
Der Pianist spielte mit einem wachen Sinn für die Dramaturgie dieser Musik, im Wesentlichen ohne übermäßige Romantizismen wie Pedalisierung, starke dynamische Exkurse oder Rubato. Bei Byrd und Bull tendierte er dazu, sich in den mittleren Variationen zu einem virtuosen Tempo zu steigern: Virtuosität als Substitut für fehlende Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Artikulation? Er nutzte allgemein moderate Dynamik und leichte Tempovariationen zum Gestalten von Phrasen und großen Bögen,außer, dass er dazu tendiert, die Variationen mit starkem Rallentando und Decrescendo ganz leise verklingen zu lassen.
Letzteres sehe ich eher kritisch; nicht nur, weil diese Möglichkeit auf dem Cembalo und verwandten Instrumenten (mit Ausnahme des Clavichords) nicht gegeben ist, sondern auch, weil mit historischen Stimmungen in diesen Kompositionen die letzten Takte und Akkorde eine Aufhellung von eher dissonanten Klängen in die wunderbar leuchtende, luzide Welt reiner Terzen bringen: ein richtiggehendes Aufblühen auf den letzten Noten. Da sich dies auf dem Konzertflügel nicht nachvollziehen lässt (alle Tonarten klingen gleichermaßen "gemäßigt rein"), ist dieIdee des langsamen Verklingenlassens zumindest verständlich.
Bei Bachs Goldberg-Variationen gelten beim modernen Flügel ähnliche Vorbehalte wie für die älteren Werke in diesem Konzert, außer, dass bei dieser Komposition (welche sich meist in der Gegend von G-Dur bewegt) die gleichschwebende Stimmung weniger „Schaden“ anrichtet. Diese Variationen sind denn auch aus dem Repertoire für Pianisten kaum mehr wegzudenken, und heutige Aufführungen müssen sich an Interpretationen prominenter Künstler messen.