Mein Urgroßvater wurde im Ersten Weltkrieg als Soldat schon 1914 vermisst gemeldet. Ich habe von ihm nicht mehr als ein Foto in Uniform geerbt. Auf der Rückseite ist in seiner Handschrift der Satz: „Zum Andenken an Deinen Freund Franz Klier”. Mein Uropa Franz war wie der in Worms geborene Komponist Rudi Stephan Jahrgang 1887. Stephan bekam 1915 an der Front eine Kugel durch den Kopf. Er hatte im Jahr davor seine einzige Oper Die ersten Menschen vollendet, zur Uraufführung kam es erst 1920. Nach einigen keuschen Produktionen mit einschneidenden Eingriffen wurde erst 1998 die Originalpartitur zum ersten Mal wieder konzertant aufgeführt. Die Niederländische Oper brachte diese Version nun beim Holland Festival in Amsterdam auch auf die Bühne.
Aber auch diesmal gab es große Beschränkungen. Durch die geltenden Regeln zur Eindämmung des Coronavirus konnte das Koninklijke Concertgebouworkest in der von der Partitur geforderten großen Besetzung nicht im Orchestergraben spielen. Die auf den ersten Blick visuell starke Position in einer Amphitheateraufstellung hinter der Bühne hatte leider auch gravierende Nachteile: Das Orchester war akustisch weniger präsent und sein Klang mischte sich nicht ideal mit dem der vier hervorragenden Sänger. Der schwerwiegendste Mangel an dieser Aufstellung war jedoch, dass Dirigent Francois-Xavier Roth, Opernchef in Köln, das Dirigieren der Sänger seinem Assistenten Aldert Vermeulen überlassen musste. Obwohl Vermeulen Roths Tempi von einem Bildschirm fleckenlos übersetzte, mussten die Sänger vollständig ohne direkte musikalische Impulse des Maestro ihren Weg durch die anspruchsvolle spätromantische Partitur finden. Als wäre das noch nicht schwierig genug, war zusätzlich das ambitionierte Regiekonzept von Calixto Bieito für alle vier Sänger ein buchstäblicher Drahtseilakt.
So muss Sopran Annette Dasch in Stilettohacken auf einem Tisch voll zermatschten Obsts und verstreuter Blumenerde ihr Gleichgewicht bewahren und zugleich eine verwirrend-verführerische Mutter und enttäuschte Ehefrau spielen. Und das in der aufgeheizten Atmosphäre eines erotischen Mysterium, so lautet nämlich der Untertitel, den Librettist Otto Borngräber seinem 1909 uraufgeführtem Schauspiel gegeben hatte. Dasch sang nahezu makellos, und sie machte darüber hinaus ihrer Rolle als Männerschmiedender Urmutter alle Ehre.
Bieitos Regiekonzept sprüht von Ideenreichtum. Der amerikanische Bariton Kyle Ketelsens ist als Adahm der perfekt ausstaffierte Erfolgsmanager (Kostüme Ingo Krügler), der zu sehr von seiner Arbeit absorbiert ist, um sich noch leidenschaftlich für seine Frau zu interessieren. Als gefühlsverarmter Patriarch observiert er seine Gattin und folgt ihr meist apathisch unwillig, ohne selbst positive Akzente zu setzen.