Als Marco Goecke sich in einem abendfüllenden Werk dem großen Tänzer Nijinsky widmete, brachte er zu Beginn eine Gestalt auf die Bühne, deren Körper ein einziger siedender Vulkan zu sein schien. Die Gliedmaßen zuckten, der Körper wiegte sich – es war eine typische Goeckefigur, wie sie seit seiner Choreographie Äffi 2005 zu seinem Markenzeichen geworden war: Tänzer, deren Hände flattern, Arme huschen, deren Körper eine einzige Nervosität zu sein schienen. Auch La Strada, das er 2018 nach dem Filmklassiker von Federico Fellini für das Gärtnerplatztheater in München schuf und das nun coronabedingt mit einer Aufführung ohne Publikum (mit Ausnahme einiger Theatermitarbeiter) als Stream im Netz zu sehen war, beginnt mit einer solchen Figur. Aber während diese nervöse Körperlichkeit früher weite Strecken seiner Choreographien prägte, ist Goecke mit den Jahren ruhiger geworden. Hatte er früher die Bewegungen in lauter minimalistische Einzelteile zerlegt und diese wie im Zeitraffer in flackerndem Licht auf die Bühne bringen lassen, schien er sie zunehmend wieder zusammengesetzt zu haben. Vor allem sind diese Zuckungen nicht mehr Selbstzweck, und das gilt vor allem für La Strada. Hier dienen sie dazu, die Figuren zu charakterisieren, und das sind Menschen, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen.
Das gilt selbst für Zampanò, den Berserker unter den Zirkusleuten. Er spielt zwar zunehmend einen Zampano, lässt buchstäblich die Muskeln spielen, aber seine Heimat ist die Zirkusarena, nicht das Privatleben; hier kann er offenbar nur eines: Gewalt ausüben. Das galt für Rosa, seine Frau, die gleich zu Beginn im Hintergrund umkommt. Das gilt für Gelsomina, die er wie eine Sklavin gekauft hat und zur Assistentin für seine Zirkusarbeit abrichtet. Beide traktiert er mit Handkantenschlägen auf den Hals. Rosa stirbt daran, Gelsomina ergibt sich dem Leid in hündischer Abhängigkeit. Goecke folgt ganz der Charakterisierung, die Fellinis Film vorgibt, aber bei ihm ist die Gewalt krasser, die Unmenschlichkeit Zampanòs noch gefühlloser. Goecke erweist sich als Meister in der Charakterisierung von Figuren allein durch Körperhaltung und Bewegung. Jeder Schritt, vor allem jede Handbewegung hat den nötigen Ausdruck hierfür.
So folgt Goecke zwar Fellinis Film, doch nicht, indem er dessen Handlung nacherzählt. Diese sollte man vielmehr kennen, denn er belässt es da bei minimalen Andeutungen. Goecke erzählt den Film, indem er dessen Charaktere aufgreift, intensiviert und in ihren Auswirkungen auf die übrigen Figuren deutlich macht. So steht Gelsomina, als sie sich in den Seiltänzer Matto verliebt, nicht einfach nur zwischen zwei Männern, sondern zwischen zwei Mentalitäten, die Goecke rein durch Bewegungscharakteristika deutlich macht. Auf der einen Seite Zampanò mit virilen, kraftvollen Bewegungen, auf der anderen Matto mit weichen, fließenden Bewegungen.