Wäre Johannes Brahms auf die Idee gekommen, über seine Zweite Symphonie die Frage zu stellen, ob es möglicherweise regnen würde? Wohl kaum, obwohl diese Symphonie doch sehr naturnah ist, aber derart Konkretes verträgt sich nicht mit dem Medium Symphonie. Auf der Ballettbühne dagegen ist derlei etwa mit pantomimenhaften Gesten durchaus möglich, und so hat sich Choreograph Liam Scarlett durch den Titel seines 2014 entstandenen Balletts With a Chance of Rain dazu verleiten lassen, einen Tänzer zu Beginn eine Hand ausstrecken und nach oben schauen zu lassen, ob ein Tropfen falle, und am Ende des Stücks wiederholt sich diese Geste. Doch die tänzerischen Passagen, die zwischen diesen beiden Gesten liegen, haben mit Niederschlag nichts zu tun, auch nicht im übertragenen Sinn mit Entspannung (nach einer Gewitterschwüle) oder Abkühlung.
Sie handeln von nichts Geringerem als der Beziehung zwischen Musik und tänzerischer Bewegung. Denn wie Scarlett hier sechs Préludes von Sergei Rachmaninow für die Tänzer deutet, in Tanz umsetzt, zeugt von einer musikalischen Sensibilität sondergleichen. Es gelingt ihm nicht nur, die Bewegungen minutiös aus den Wendungen der sehr abwechslungs- und stimmungsreichen Klavierstücke zu entwickeln, er fand vor allem stets eine Entsprechung zum Geist der Musik, ihrer Atmosphäre. Wirkt eines dieser Préludes klanglich, als wäre es von Chopin, bringt Scarlett eine geradezu klassische Tanzszene auf die Bühne, die an das 19. Jahrhundert gemahnt, ohne aber altmodisch zu sein. Zu den dramatischen drei Anfangsakkorden des cis-moll-Préludes, Op.3 Nr.2 betreten zwei Tänzer des Bayerischen Staatsballetts energiegeladen die Bühne, um dann, wenn die Musik sich introvertiert in leisen Klängen verliert, zu innigem Tanz miteinander zu finden.
Zugleich entwickelt er immer wieder kleine Szenen. Da demonstriert ein Tänzer vor einer jungen Frau sein Können; sie aber wendet sich gelangweilt ab. Wird ein junger Man aufdringlich und fasst einer Frau an den Po, reagiert diese ablehnend und entsetzt. Das wird aber nie zur Handlung ausgespielt, sondern bleibt Andeutung, konkret genug, um vom Betrachter weitergesponnen zu werden. So stört an diesem fulminanten Stück nur eines: Der Titel und die von ihm angeregte Geste.
Andeutungen von Handlungen oder Charakteren finden sich auch in Sharon Eyals Stück Bedroom Folk, obwohl man so etwas wie Handlung da aufgrund der Musik kaum vermuten sollte, denn die elektronischen Klänge von Ori Lichtik verbreiten keine Stimmungen wie die Préludes von Rachmaninow, sie sind eher Impulse, rhythmische Akzente in rascher Abfolge, manchmal kaum merklich variiert wie Minimal Music, die die Tänzer weniger zu Bewegungsabläufen animieren als zu Körperzuckungen. Da bleiben die Füße gern auch einmal still auf dem Boden stehen und nur die Arme, Schultern, Köpfe bewegen sich, meist ruckartig, dann greifen die Arme schlangengleich in den Raum aus, und alle Tänzer führen das streng synchron aus. Die acht Tänzerinnen und Tänzer stehen eng beieinander wie eine Phalanx. Man könnte daher den Titel mit „Schicksalsgenossen“ übersetzen. Das ist eine Choreographie über den Zwang zur Gruppenidentität, zum Verlust an Individualität, wobei sich aber immer wieder der eine oder andere „Ausreißer“ zu eigenen Aktionen verleiten lässt. So verlassen einzelne Tänzer die Gruppe, variieren ihre Bewegungen, entwickeln einen eigenen Stil, ohne aber ganz vom Stil der anderen zu lassen. Es ist eine bisweilen beklemmende Arbeit, vor allem, wenn am Ende eine Art Rattenfänger von Hameln die Gruppe mit sich zieht, ob ins Verderben oder eine neue Zukunft bleibt ungewiss. Denn bei aller Abstraktheit der Bewegungen schälen sich immer wieder Ansätze zu Situationen heraus. Mal meint man, einer Disco beizuwohnen, mal erkennt man eine Würgeattacke, sogar Anspielungen auf die Schwäne in Tschaikowskys Ballettklassiker sind erkennbar, aber stets nur in sekundenkurzen Andeutungen.