Genauso spannend wie es ist, sich eine Uraufführung anzuhören, kann es sein, dahinterzukommen, welche Bedeutungsinhalte sich hinter dem Titel einer neuen Komposition verbergen. Kompositionstitel sind im Allgemeinen eher fantasielos (Zweites Klavierkonzert, Dritte Symphonie), ab und zu aber auch wirklich philosophisch. Catamorphosis, der Titel des neuesten Werkes von Anna Thorvaldsdottir, das von den Berliner Philharmonikern nun uraufgeführt wurde, weist mit dem Titel auf die drohende Katastrophe hin, auf die wir alle mit unserem die Umwelt zerstörenden Lebensstil hinsteuern.
Die in Island geborene und in London lebende Thorvaldsdottir möchte, so ist einem Interview zu entnehmen, mit ihrem neuen Werk unsere Beziehung zu unserem Planeten thematisieren. Unser Ökosystem ist schon seit Jahren bedroht und es geht ihr in diesem im letzten Jahr während der Pandemie entstandenen Werk sowohl um die Dringlichkeit als auch um Hoffnung. Das prekäre Gleichgewicht zwischen Zerbrechlichkeit und zerstörender Kraft übersetzt sie in ihrer Musik in den ständigen Wechsel von luftigen Klängen und schweren Akzenten. Die Holz- und Blechbläser der Berliner Philharmoniker produzierten virtuos beinah unhörbare Luftklänge. Sehr hohe Geigentöne säuselten über tiefen Kontrabässen (die Partitur schreibt den Gebrauch von fünfsaitigen Instrumenten, mit einem Kontra C vor). Die vier Schlagzeuger strichen mit Schuhbürsten über die Felle ihrer großen Trommeln. Über einfacher Harmonik (manche Passagen erinnerten an New Age Musik) entstand so eine vielschichtige Sphärenmusik, die keinen Moment langweilte. Immer wieder neue, gerade noch unhörbare Klänge brachen aus dem Orchestertutti hervor und verlöschten wieder in ihm. Chefdirigent Kirill Petrenko, der nach eigenen Angaben noch nicht viele Uraufführungen geleitet hat, dirigierte sein groß besetztes Orchester mit Sorgfalt und Augenmaß. Es machte ihm aber auch sichtlich Spaß, dieses Kaleidoskop von zerbrechlichen Farben in immer wieder neue Bahnen zu lenken.
Daniil Trifonov, 1991 geboren im russischen Nizjni Novgorod, führt mit seinem körperbetonten Spiel eine lange Tradition an russischen Ausnahmepianisten fort. In Prokofjews frechem Erstem Klavierkonzert überzeugte er in Berlin mit glasklaren Läufen, hämmernden Akkorden und beinah „abartigen Farben” (Solohornist Stefan Dohr über ihn im Pauseninterview). Die drei Sätze gingen nahtlos ineinander über und kulminierten unter Petrenko in einem bravourösen wilden Schlussteil, in dem Solist und Orchester einander schwindlig spielten. Vor coronabedingt leerem Saal gab es leider keine Zugabe, was, gerade weil sonst fast alles an ein „normales” Konzert erinnerte, eine herbe Enttäuschung war!