Alle haben sie „nur ihre Pflicht getan“, diese willigen Helfer in den Konzentrationslagern der Nazis. Von einem Gewissen ist dabei nie die Rede. Am besten verdrängen und alles vergessen, Strich drunter und nach vorne blicken. Bis in die 60er Jahre hinein galt dieses Muster im Umgang mit der Vergangenheit. Erstaunlich genau hat die polnische Journalistin Zofia Posmysz dieses Verhalten bereits 1962 in ihrer Novelle Die Passagierin beschrieben, welche als Vorlage für Mieczysław Weinbergs gleichnamige Oper diente. Darin wird die SS-Aufseherin Anna Lisa Franz (eine wirkliche Figur dieser barbarischen Zeit) mit ihrer Schuld konfrontiert, und Weinbergs Oper erzählt diese Geschichte so, dass sie einen fortan nicht mehr loslässt.
Diese Lisa befindet sich 1960 mit ihrem Mann Walter auf einem Passagierdampfer nach Südamerika, wo er eine Diplomatenstelle antreten soll. Es herrscht Aufbruchstimmung: „Adieu Europa, Deutschland adieu!“, Walter jubelt es schier heraus. Er möchte den vom Krieg traumatisierten Kontinent, die „dunklen Zeiten“ hinter sich lassen, nur seine Frau bleibt wortkarg. Ihr ist an Deck eine Mitreisende aufgefallen, durch die sie jäh in die Vergangenheit zurückgeworfen wird. Scheibchenweise erfährt nun ihr Mann von Lisas Vergangenheit, dass sie Aufseherin in Auschwitz war, und dass die ominöse Passagierin sie an die polnische Gefangene Marta erinnert. Das dramaturgisch geschickt gebaute Libretto dreht nun Lisas Verdrängungsprozess in einzelnen Rückblenden zurück; schrittweise wird die Realität des Lageralltags nacherzählt. Lisas halbherzige Bekenntnisse in den Gesprächen mit Walter werden so immer mehr als Schutzbehauptungen entlarvt.
Mittels der Drehbühne verbinden sich in dieser Inszenierung die Zeitebenen nahtlos. Es ist ein Schiffskorpus zu sehen, außen die Reling des Passagierdampfers und innen die Welt des Konzentrationslagers. Wie aus Lisas Gedankenwelt hervorquellend wird das Geschehen erzählt, bis sie am Schluss von der Passagierin direkt zur Konfrontation mit der schrecklichen Wahrheit gezwungen wird. Als bei der Schiffsparty plötzlich ein banaler Walzer erklingt - der Walzer, den der Kommandant in Auschwitz die Häftlingskapelle immer hatte spielen lassen - tritt die geheimnisvolle Person vor, reißt sich die Perücke vom Kopf, und unter dem eleganten Mantel kommt die gestreifte Häftlingsmontur zum Vorschein. Gleichsam im weichen Schnitt verwandelt sich das ganze Personal auf der Bühne in die Darsteller der Lagerwelt. Nochmals ereignet sich die schreckliche Szene, als Martas Verlobter Tadeusz dem Lagerkommandanten eben diesen Walzer vorspielen sollte.
Als klingenden Triumph über die Barbarei intoniert er aber Bachs d-Moll-Chaconne. Weinberg lässt sie zuerst von der Solovioline anstimmen, dann übernehmen unisono die Geigen und Bratschen und in dem Moment, als die SS-Leute Tadeusz die Geige wütend aus der Hand schlagen, explodiert die Musik in chaotischer Kakophonie. Tadeusz wird sofort an der berüchtigten „Schwarzen Wand“ von der SS erschossen.