Es scheint zu den grundlegenden Gesetzen der Ästhetik zu gehören, dass Spätwerke, es mag sich nun um Werke der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik handeln, stets eine besondere Herausforderung für ihre Betrachter, Leser oder Hörer darstellen. Woran dies liegt, ist nicht einfach festzumachen. Oft sprengen sie als gewohnt angesehene Grenzen und hinterfragen damit meist das Gesamtwerk ihres Schöpfers. Ihnen wohnt, so gesehen, eine gewisse Doppeldeutigkeit inne: auf der einen Seite werfen sie den Schatten des Abschiednehmens, aber auf der anderen Seite brechen sie zu neuen Ufern auf. Sie sind damit, wie es der Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti formuliert hat, „nicht Schlussstriche, sondern Anhaltspunkte für das, was noch kommt“.
Dieser Aura kann sich auch Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9, sein letztes vollendetes Werk, nicht entziehen. Der biographische Hintergrund ihrer Entstehung macht es leicht, in dieser Symphonie einen Schwanengesang, ein Werk von Trauer, Resignation und Abschiednehmen zu sehen. Doch, und dieser Aspekt wird dabei übersehen, die Musik in ihrer Neu- wie Eigenartigkeit stellt sich einer solchen Interpretation vehement entgegen. Es ist damit wohl das eigentümlichste Kind der „kleinen Familie“, wie Mahler seine Symphonien in einem Brief an Bruno Walter bezeichnete.
Vieles ist und bleibt an dieser Symphonie, über deren ersten Satz Alban Berg einmal urteilte, er sei das Allerherrlichste, das Mahler je geschrieben habe, ungewöhnlich. Da wäre einmal die Disposition der Sätze ins Spiel zu bringen. Statt dem im 19. Jahrhundert traditionell gewordenen Schema zu folgen, bilden zwei eher als langsam zu bezeichnende Ecksätze den Rahmen für zwei bewegte Sätze im Mittelteil. Auch die Verwendung der Tonarten ist außerordentlich, denn sie werden voll und ganz Mahlers Konzept der progressiven Tonalität unterworfen, was bedeutet, dass hier kein klassischer Tonartenplan vorliegt, sondern auf den ersten Satz in D-Dur einer in C-Dur, dann einer in a-Moll und zuletzt einer in Des-Dur folgt. Außerdem ist auch die Verwendung der Harmonik alles andere als gewöhnlich. Sie tastet sich schon vorsichtig dem an, was man im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert als Klangmontage bezeichnen wird.
Den genannten Aspekten ist sich die Interpretation, die die Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim beim Festkonzert anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen und der 60-jährigen Mitgliedschaft der Republik Österreich in dieser Organisation boten, vollauf bewusst. Barenboim, der ausgerechnet an diesem Tag auch seinen eigenen Geburtstag feiern durfte, brachte diese wohl zu den schwierigsten gehörende Symphonie Mahlers als ein Geburtswerk der neuen Musik zu Gehör.