Es ist vielleicht Liebe auf den ersten Blick, auf jeden Fall aber eine elektrisch aufgeladene Faszination, die zwischen dem 15-jährigen französischen Mädchen und dem zwölf Jahre älteren chinesischen Geschäftsmann innerhalb eines Augenblicks auf einer Fähre in Saigon entsteht. Bei Marguerite Duras, deren Roman Der Liebhaber den Choreographen Marco Goecke schon seit langem begeistert und der ihn jetzt zu einem abendfüllenden Ballett in Hannover inspiriert hat, führt diese Elektrizität, die in der Erinnerung der Erzählerin, die längst in Frankreich eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist, als solche genau beschrieben wird, sehr schnell zum Sex.
Nicht so bei Marco Goecke. Bei ihm ist es ein „Augenblick“ im Wortsinn, der alles auslöst und sogleich zu einer Seelenverwandtschaft führt. Faszinierend lässt Goecke in dieser frühen Szene die beiden Figuren parallel zueinander schreiten, mal neben- mal hintereinander, mal gehen sie aufeinander zu, mal bewegen sie sich voneinander weg, immer aber im Gleichklang der Körper und vor allem mit einer geradezu spannungsgeladenen Langsamkeit. Dabei arbeitet Goecke mit seinen Tänzern subtil die Unterschiede heraus. Sandra Bourdais ist eher verhalten, vorsichtig beobachtend, der Liebhaber von Maurus Gauthier ist zwar auch vorsichtig, aber fordernder, er rutscht auch mal rückwärts auf dem Boden auf sie zu. Das ist von beiden eine grandiose Charakterstudie mit geringsten gestischen Mitteln.
Das wirkt umso spannender, als Goecke ja bekannt ist für seine hektischen, nervös aufgeladenen Bewegungen vor allem der Arme. Diese hektischen Zuckungen finden sich zwar auch hier in diesem Stück gleich zu Beginn, wenn nämlich nicht die Protagonisten auftreten, sondern gewissermaßen das Umfeld, die vietnamesische Bevölkerung, und da bekommen seine abrupten Bewegungen, die in früheren Arbeiten manchmal den Eindruck des Selbstzwecks, ja des Manierismus erweckten, plötzlich inhaltlichen Sinn, drücken die in ihrer täglichen Arbeitsroutine gefangenen Menschen am Fluss aus, der durch einen in Grautönen changierenden Bühnenprospekt angedeutet wird.
Auf diese Weise werden die beiden Liebenden stets herausgehoben aus der Welt um sie herum. Langsam entwickelt sich bei Goecke die körperliche Liebe, erst gegen Ende finden beide zu einer engen Umarmung und einem langen Kuss.
Auch der familiäre Hintergrund des Mädchens, der bei Duras genauso wichtig ist wie die Liebesgeschichte, setzt sich von der Geschäftigkeit des vietnamesischen Straßenlebens ab. Die Mutter, psychisch labil und ausschließlich ihrem älteren Sohn zugetan, wird von Ana Paula Camargo in einer Mischung aus Unsicherheit und herrischer Pose charakterisiert, der ältere Sohn (Rosario Guerra), Nichtsnutz und drogenabhängig, eilt in rasenden Läufen wie ein gefährlicher Schatten über die Bühne und stößt dabei gewaltige grauweiße Zigarettenrauchwolken aus, die eine unglaubliche Körperlichkeit besitzen.