Im Leben eines jeden Menschen gibt es eine emotionale Sackgasse, eine normale Sättigungsgrenze, hinter der ein Hinterland puren Gefühls liegt. Auf der Bühne, wo die Gesetze des normalen Lebens nicht länger gelten, muss ein Tänzer – oft unter großem persönlichen Risiko – diese emotionale Schwelle überschreiten und darin die sprichwörtliche vierte Wand durchdringen. Und es ist dieses emotionale Wagnis, aus dem wir live-Veranstaltungen besuchen, Vorstellungen wie die mit Hélène Bouchet, Alexandr Trusch und dem Hamburg Ballet in John Neumeiers Romeo und Julia.
Wenn man die Produktion zum ersten Mal sieht, enthüllt sie viele neue Facetten, versteckte Ereignisse narrativen Details, die zusammen eine komplexe und doch einfach und tiefgründig menschliche Tragödie formen. Anders als in vielen anderen Fassungen endet die erste Szene nicht mit Todesopfern, was einen nahtlosen Übergang zu der jugendlichen Unbeschwertheit von Julias Schlafzimmer/Bad gestattet. Sie deutet auch an, dass Romeo und Julia sich treffen, als sie beide noch unberührt von Tragik und voller Unschuld sind. Zuerst treffen wir Julia, barfuß, nur in eine Decke gehüllt, aber sie stellt ihre Sexualität nicht zur Schau: in ihren sichelfüßigen Bewegungen und ihrer ungehemmten Ungelenkheit (ganz im Kontrast zu der schicklichen, stilisierten Haltung der Lady Capulet, Hände immer hoch vor der Brust verschränkt) scheint sie sich ihrer nicht bewusst. Und von diesem Punkt aus entfaltet sich eine Geschichte von Selbstentdeckung, sexuellem Erwachen, von traumatischer Erkenntnis und wachsender Liebe. Die Hebefiguren in der Balkonszene gehen von einem organischen Extrem ins andere; in einem Moment im Spagat unter Romeo betrachtet sie ihn aus der Tiefe, im nächsten geschwind in die Höhe gestemmt blickt sie auf sein Gesicht hinab. Es gibt eine ganz andere Art von Sog im Rittertanz und Lady Capulets voluminösen Bewegungen, wo viel der wirbelnden Kraft nihilistisch scheint, unumstößlich.
Ich war ergriffen davon wie in dieser Fassung, wie im wahren Leben, kleine Dinge sich addieren, zu größeren werden, wie scheinbar unbedeutende Umstände von Situation und Glück ein Schicksal bestimmen. Eine kleine Gemeinheit (ein Junge, der jemandem einen Streich spielt) eskaliert zu gezückten Schwertern; jugendliche Impulsivität wird zu tödlicher, leichtsinniger Gewalt. Diese Medaille hat zwei Seiten. Romeo und Julias schicksalhaftes Zusammentreffen unter dem Sternenhimmel beginnt mit einer scheinbar unschuldigen Handlung: Julia dreht sich um, um ihr Tuch aufzuheben, begegnet Romeos Blick, und für diese wenigen, wertvollen Sekunden bleibt die Zeit stehen. Es folgt ein Sprint in die Tragödie.
Neumeier bietet uns eine vollständige Gesellschaft, eine menschliche Landschaft, in der jede Figur, von den Protagonisten zu den reisenden Schauspielern, in ihrer Gänze dargestellt wird und doch auf gewisse Weise von den anderen untrennbar ist. Pater Lorenzo, sonst oft isoliert, steht hier im Zentrum der Handlung als aktiver, wenngleich unwissender Befähiger ihres Dramas. Wenn Tybalt zu fliehen versucht ist es Lorenzo, der sich ihm in den Weg stellt und dadurch unbewusst einen letzten Showdown mit Romeo erzwingt. Die implizierte moralische Zweideutigkeit vermenschlicht beide Figuren. Und selbst in den Höhepunkten des Balletts werden wir daran erinnert, dass was wir sehen echte Menschen, keine bloßen Schauspieler sind. Wenn Mercutio tödlich verwundet wird und die Stadtbewohner einen wachsenden Kreis um ihn formen, schiebt sich ein Mädchen durch die Menge in den Vordergrund – private Dramen werden auch gelebt.