Es hätte auch eine East Side Story werden können: Leonard Bernstein fand das Projekt faszinierend, den österlichen Konflikt zwischen Juden und Katholiken sowie eine Liebesbeziehung, die tragisch am Konfessionsstreit zweier Familien scheitert, in die Mitte eines neuen Musicals zu stellen. Doch dieser Plot war 1949 bereits Thema eines anderen ansehnlichen Broadway-Erfolgs geworden. So blieb die Idee liegen, und tagesaktuelle Gründe gaben sechs Jahre später den Ausschlag, Shakespeares Romeo und Julia-Stoff vom East River an den Hudson zu verlegen: dort wo sich puerto-ricanische Einwanderer niedergelassen hatten und mit jungen amerikanischen Teenager-Gangs Konflikte aus rassistischen und sozialen Spannungen austrugen. Tony aus New York und Maria aus Puerto Rico sind nun Romeo und Julia. Und um die Verliebten herum prügeln sich die Banden von Jets und Sharks um die Kontrolle über einen Straßenabschnitt.
Im August 1957 kam die West Side Story in Washington heraus, und bereits im September bestand sie bravourös ihre Feuertaufe im Winter Garden Theatre am Broadway, weil Bernstein und seine Textdichter Arthur Laurents und Stephen Sondheim geschickt Bühnendramatik und moderne Musikformen zwischen aggressivem Hard Bop und swingendem Cool Jazz verbunden hatten und die bewegungsreiche Choreographie von Jerome Robbins die Emotionen erlebbar machte. 1972 war das Werk in der Deutschen Erstaufführung der übersetzten Broadway-Fassung bereits in Nürnbergs Opernhaus zu sehen. Jetzt kam das Musical zurück auf die Bühnenbretter des Staatstheaters, in neuer Choreografie und Regie der Amerikanerin Melissa King, die nach einem Studium der Politikwissenschaft an der renommierten Yale University sich ganz auf Tanzrollen in Musicals und Regiearbeiten konzentriert.
Schon vor dem ersten Ton geht das Stück bereits los auf der Pausenleinwand des Theaters: auf einer riesigen Fabrikmauer hatten dort bereits Jets und Sharks der Fünfziger Jahre ihre Botschaften hinterlassen, langsam kommen neue Sprüche hinzu, offensichtlich aus sehr gegenwärtiger Auseinandersetzung: „Build that Wall!“ und „Send them back!“, ein ungelenkes Trump-Portrait. Anspielungen solcher Art finden sich immer wieder in Melissa Kings Einrichtung des Musicals, wenn etwa ein großes „MAGA“ die coole Basecap von Lieutenant Schrank ziert: „Make America Great Again!“. Darüber hinaus verzichtet sie auf plumpe Zitate aktueller politischer Konfrontation, überlässt dem Zuschauer die Einordnung von erlebten Migrationsbildern, Fremdenangst und Bandengewalt in beeindruckende wie beklemmende Momente des Bühnengeschehen. Ihre Gangs leben nur in der kleinen Welt eines Straßenabschnitts, ohne Straße wäre die Gang ein Nichts. Das effiziente Bühnenbild (Knut Hetzer) gruppiert diese Enge zwischen einige rostige Wellblechwände, Feuerleitern und Stahlträger eines Mietshauses: Minizimmer und Balkon hoch über der Straße, nach dem blutigen Showdown des Kräftemessens ragen Eisenstreben des verwüsteten World Trade Centers wie eine Assoziation der sinnlosen Spirale aus Hass und Gewalt in die Hinterbühne. Den Zeitbezug lassen auch die Kostüme von Judith Peter offen, deren lässige blau-graue Jogginganzüge oder Hoodies die Kälte-erfahrenen Jets charakterisieren wie Netzhemden, Tattoos und leuchtend rote Shirts die sonnigen Karibik-Erinnerungen der Puerto Ricaner ausdrücken können.