Grigory Sokolov erarbeitet sich für jede Spielzeit ein Programm, aus dem er in jedem seiner ca. 70 Konzerte vorträgt. Alle Stücke gemeinsam, die er für die Spielzeit 2023/24 ausgewählt hat, erklingen jedoch selten in den Sälen – so auch bei seinem Recital in der Hamburger Laeiszhalle.
Die erste Hälfte des Klavierabends war alleine Bach gewidmet, dessen Werke Sokolov auf einem modernen Flügel spielte. Es gelang ihm, die zweistimmigen Inventionen der Vier Duette aus dem dritten Teil der Clavier-Übung in das Klanggewand der Barock-Epoche zu tragen und nicht allein schnörkellos nachzukonstruieren, sondern stets den in ihrem Hintergrund stehenden vierstimmigen Satz mitzudenken. Es gab keine Stimme, die nicht in ihrer feinen Gestik nuanciert phrasiert wurde, immer war deutlich zu hören, welche Stimme die führende war. Sokolovs Tongebung kam Bachs Musik darin sehr entgegen, dass er – etwa in dem leichter zu nehmenden G-Dur-Duett – seine Finger luftig auf die Tasten fallen ließ und den Ton anschließend sofort abfederte.
Nahtlos schloss Sokolov die c-Moll-Partita an. Er verzichtete auch hier darauf, um so den Klang eines älteren Instruments nachzuahmen, das Verschiebungspedal einzusetzen. Darum konnte er die komplette Farbpalette des Steinway-Flügels nutzen. Sokolov spielte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast allein nur die Verzierungen, die Bach auch notiert hatte. Die Wiederholungen fasste er als im Ton und Charakter „veränderte Reprisen“ auf, besonders überzeugend gelang dies in der fragil vorgetragenen Sarabande.
Im zweiten Teil widmete sich Sokolov sieben Mazurken Frédéric Chopins (Op.30 und Op.50), deren Darbietung ein Meisterstück der Tempogestaltung durch Rubato war. Durch seine freie Einführung von Ritardandi und anderer Arten der Veränderung der Tempi erklang kaum ein Ton auf dem vorgegebenen Taktschlag. Sokolov ließ den polnischen Tanz Kujawiak auch dann in den Hintergrund zurücktreten, wenn Chopin ihn selbst, wie z.B. in den beiden cis-Moll-Mazurken, recht deutlich stilisiert hatte. Fast durchweg herrschte eine durch Synkopen gebremste, fast zögerlich fließende Bewegung vor.