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Der große Erzähler am Klavier: Grigory Sokolov in Hamburg

Par , 13 juin 2024

Grigory Sokolov erarbeitet sich für jede Spielzeit ein Programm, aus dem er in jedem seiner ca. 70 Konzerte vorträgt. Alle Stücke gemeinsam, die er für die Spielzeit 2023/24 ausgewählt hat, erklingen jedoch selten in den Sälen – so auch bei seinem Recital in der Hamburger Laeiszhalle.

Grigory Sokolov
© Vico Chamla

Die erste Hälfte des Klavierabends war alleine Bach gewidmet, dessen Werke Sokolov auf einem modernen Flügel spielte. Es gelang ihm, die zweistimmigen Inventionen der Vier Duette aus dem dritten Teil der Clavier-Übung in das Klanggewand der Barock-Epoche zu tragen und nicht allein schnörkellos nachzukonstruieren, sondern stets den in ihrem Hintergrund stehenden vierstimmigen Satz mitzudenken. Es gab keine Stimme, die nicht in ihrer feinen Gestik nuanciert phrasiert wurde, immer war deutlich zu hören, welche Stimme die führende war. Sokolovs Tongebung kam Bachs Musik darin sehr entgegen, dass er – etwa in dem leichter zu nehmenden G-Dur-Duett – seine Finger luftig auf die Tasten fallen ließ und den Ton anschließend sofort abfederte.

Nahtlos schloss Sokolov die c-Moll-Partita an. Er verzichtete auch hier darauf, um so den Klang eines älteren Instruments nachzuahmen, das Verschiebungspedal einzusetzen. Darum konnte er die komplette Farbpalette des Steinway-Flügels nutzen. Sokolov spielte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast allein nur die Verzierungen, die Bach auch notiert hatte. Die Wiederholungen fasste er als im Ton und Charakter „veränderte Reprisen“ auf, besonders überzeugend gelang dies in der fragil vorgetragenen Sarabande.

Im zweiten Teil widmete sich Sokolov sieben Mazurken Frédéric Chopins (Op.30 und Op.50), deren Darbietung ein Meisterstück der Tempogestaltung durch Rubato war. Durch seine freie Einführung von Ritardandi und anderer Arten der Veränderung der Tempi erklang kaum ein Ton auf dem vorgegebenen Taktschlag. Sokolov ließ den polnischen Tanz Kujawiak auch dann in den Hintergrund zurücktreten, wenn Chopin ihn selbst, wie z.B. in den beiden cis-Moll-Mazurken, recht deutlich stilisiert hatte. Fast durchweg herrschte eine durch Synkopen gebremste, fast zögerlich fließende Bewegung vor.

Da die Mazurka häufig auch gesungen wird, ließ Sokolov sich z. B. auch vom „Risotuto“ in der Des-Dur-Mazurka nicht täuschen, sondern ließ ihm einen kantablen Charakter angedeihen. Großen Wert legte er darauf, die Schlussbildungen der Stücke so offen zu gestalten, wie Chopin sie komponiert hat, indem er die Ganzschlüsse als getarnte Halbschlüsse formulierte. So verbarg sich hinter dem Punkt ein Fragezeichen. Höhepunkt war die cis-Moll-Mazurka, Op.50 Nr.3, in deren Mittelteil Sokolov fast trotzig den Akzent auf den zweiten Taktteil stampfte.

Den vorläufigen Schluss bildeten Schumanns Waldszenen, die Sokolov weit langsamer nahm als vergleichbare Interpretationen. Versprengte Elemente romantischer Musik klangen an. In der Verrufenen Stelle mit ihren Punktierungen und Imitationen gelang ihm ein Rückverweis auf die erste Hälfte des Programms. Mit großer Meisterschaft zauberte Sokolov die feinsten Reibungen der Vorhalts-Dissonanzen hervor und ließ den Vogel als Prophet wie schwebend durch den Saal fliegen. Im Abschied meinte man, dass er sich bewusst im Wald verlaufen wollte.

Dann begann der inoffizielle dritte Teil, der wie bei Sokolov gewohnt aus sechs Zugaben bestand, u.a. drei Chopin-Stücke. So gekonnt, wie er Skrjabins Prélude e-moll aus Op.11 in gläserne Töne hauchte, ließ es mich hoffen, dass er diesen Zyklus doch einmal geschlossen zu Gehör bringen möge. In Henry Purcells Chaconne g-Moll meißelte er jeden Ton fest in die Tastatur, und mit Bachs „Ich ruf‘ zu Dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 638) aus dem Orgel-Büchlein (in Ferruccio Busonis Bearbeitung) entließ er sein beeindrucktes Publikum.

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Critique faite à Laeiszhalle: Großer Saal, Hamburg, le 10 juin 2024
Bach, 4 Duets, BWV802-805
Bach, Partita no. 2 en ut mineur, BWV826
Chopin, 4 Mazurkas, Op.30
Chopin, 3 Mazurkas, Op.50
Schumann, Scènes de la forêt (Waldszenen), Op.82
Grigory Sokolov, Piano
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