So, wie er die Bühne betrat und den Willkommensapplaus entgegennahm, wirkte Piotr Anderszewski bescheiden, fast hatte man das Gefühl, er wolle sich für seine Präsenz entschuldigen. Sobald er sich jedoch an den Flügel gesetzt hatte, verschwand dieser Eindruck – der Pianist war fortan auf das Instrument, auf die Musik fokussiert. Seine Programmzusammenstellung wirkte auf den ersten Blick eigenartig: zu Beginn Schumanns „Geistervariationen", über die introvertierten, kurzfristig angekündigten fünf Sätze des zweiten Buches von Janáčeks „Auf verwachsenem Pfade" und drei Mazurki von Chopin, hin zur rhapsodischen Brillanz von Chopins Op. 61. In gewisser Weise schien er das Rad der Zeit emotional rückwärts laufen zu lassen.
Das einfache, melancholisch-nachdenkliche Thema zu den „Geistervariationen", Schumanns allerletztem Werk, tauchte schon 1853 in seinem Violinkonzert auf. Es ist so eigentümlich verhalten, dass Freunde und Familie des Komponisten es als Zeichen des geistigen Verfalls gedeutet haben. Zu Unrecht, wie mir scheint. Die „Geistervariationen" entstanden in den Tagen vor seinem Suizidversuch 1854 – statt auf geistigen Verfall ist es wohl besser, darin ein letztes Aufflackern der Kreativität zu sehen. Anderszewski ging die Variationen noch zurückhaltender an als der Notentext vorgibt, anfänglich ganz ppp, wie aus der Ferne. Im Kern zeigte schon diese Interpretation, was sein Klavierspiel über den ganzen Abend charakterisierte: der Pianist gestaltet umfassende Bögen in einem einzigen, großen musikalischen Fluss. Er baut die Spannung harmonisch auf bis zu einer Klimax, lässt die Phrase ausklingen, setzt dann neu an (z.B. bei der Moll-Variation). Auch dynamische und Tempoverläufe sind fließend. Da sind keine Härten oder schroffe Kontraste, der Anschlag ist extrem kontrolliert, durchhörbar in der Polyphonie. In der Artikulation dominiert ein weiches Legato, gelegentlich ein angedeutetes Arpeggiando. Insgesamt: Wohlklang, wiewohl man die Komposition als traurig-gebrochen bezeichnen könnte. Die Magie dieser Interpretation zog mich in ihren Bann.
Anderszewski erweiterte aber die Bögen über die Komposition hinaus, er ließ den Schlussakkord der Variationen lange ausklingen, beließ dann die Hände über der Partitur, schaffte es, die Spannung aufrecht zu halten. Er begann nach wenigen Sekunden mit Mozarts Fantasie KV 475, die er wiederum auf die gleiche Art mit der Sonate KV457 verknüpfte. So gestaltete er die ganze erste Konzerthälfte zu einer einzigen, dramatischen Einheit, die mir äußerst sinnfällig erschien, trotz des unterschiedlichen Charakters in Mozarts Musik. In der Fantasie fand sich der gleiche weiche Anschlag, sehr expressive Agogik und Dynamik. Und auch diese Komposition war in den langsamen Teilen verhalten, introvertiert. Da fanden sich keine Zeichen von Rebellion oder Provokation – genauso wenig in den Allegro-Teilen, selbst wenn diese sich durchaus zu aufgewühlten Momenten steigerten. Das abschließende Tempo I greift auf den Anfang zurück, wirkte jedoch gewichtiger, größer.