Brüder am Werk: das Textbuch zu Peter I. Tschaikowskys später Oper Pique Dame hatte 1890 sein Bruder Modest verfasst, nach Alexander Puschkins gleichnamiger Novelle. Held des Dramas ist Hermann, ein zunächst harmloser bürgerlicher Offizier mit deutschen Wurzeln, im Kreise reicher, aristokratischer Kameraden. Als er sich in die feine Lisa verliebt, benötigt er viel Geld. Weil er von einem dämonischen Kartengeheimnis um Lisas Tante erfährt, einst leidenschaftliche Spielerin mit Beinamen „Pique Dame“, wandelt er sich zum Besessenen, um die ominösen drei Karten kennenzulernen, stößt sogar Lisa von sich. Am Ende, als die alte Dame stirbt, ihm aber im Traum die Karten verrät, wird er selbst Opfer seiner Spielsucht.
Der australische Regisseur Benedict Andrews, erstmals 2022 mit Così fan tutte an der Bayerischen Staatsoper, widmete sich bislang verstärkt Filmprojekten wie dem Thriller Seberg über die amerikanische Schauspielerin. Bei Pique Dame zieht er Parallelen zu einem Film noir, in dem die Figuren in ihre eigenen Abgründe stürzen. Im Gespräch mit Olaf Roth, Dramaturg an der Staatsoper, sieht Andrews Hermann „am untersten Ende der sozialen Leiter. Als Loser. Zu Beginn des Stücks hängt er im Casino ab, aber er spielt nie – er ist zu arm, er schaut nur zu.“ Abstrahierend von der vom Zarenreich um 1800 geprägten Adelsgesellschaft siedelt er die Handlung in ein moderneres Umfeld: eine klassische Mafia-Hierarchie, die von Gewalt und Korruption am Leben gehalten wird. Lisas Verlobter Fürst Jelezki ist Mafiaboss, der über Spielhöllen und Sexgeschäft herrscht, die dunkle Seite der Gesellschaft symbolisiert. In dieser entwickelt sich die zerstörerische, tödliche Liebe zwischen Lisa und Hermann wie im Film noir: schicksalhaft, mit gefährlicher Sprunghaftigkeit. Wie Erinnerungsfetzen blitzen die Episoden der Geschichte von den drei Karten auf und gewinnen eine gespenstische Präsenz, die zugleich das Quälende von Hermanns Wahn spürbar macht.
Passend dazu ist das Bühnenbild von Rufus Didwiszus reduziert, blendet konsequent Reminiszenzen an das zaristische Russland aus. Die Bühne ist fast nie ausgeleuchtet, in schwärzlich undefiniertem Hintergrund werden die Akteure immer wieder geradezu aufgesaugt; die düster wabernde Stimmung einer Spielhölle durchzieht alle sieben Bilder. Aber nicht immer stimmig, wenn man, wie am Anfang, dem kindlichen Paradieren jugendlicher Gardisten zusieht, die von ihren Müttern eigentlich zum Spiel im Sonnenschein in den Park geschickt wurden, und das orchestrale Vogelgezwitscher ins Leere läuft. Und wenn Hermann mit seinem ständigen Begleiter, einer Pistole, ziellos in der Luft herumfuchtelt.
Nicht in Lisas Gemächern: der Junggesellinnen-Abschied mit ihren Freundinnen findet auf den Kühlerhauben schwarzer Karossen statt; ein Bild, das an ähnliches Liebesspiel in Andrews' Così fan tutte erinnert. Und an Stelle von höfischem Maskenball, wenn Jelezki sich um Lisa bemüht: wie auf einer Sporttribüne sitzen die Eingeladenen aufgereiht. Rochaden von Gästen, wenn der Schlüssel von Lisas Schlafraum zu Hermann wandert; Stehparty auf Treppe und an der Rampe, der Lisa bewegungslos zusieht; augenzwinkernde Parallelen des Singspiels um ein Schäfermädchen konsequent übersprungen.
Warum in der Suite der Gräfin ein Planschbecken installiert ist, wird nicht wirklich deutlich. Dass die hinzukommenden Doubles der ehemaligen „Venus von Moskau“ die Comtesses und Duchesses ihrer Jugend sein könnten, wird zwar spürbar. Dass Hermann in der Gier nach den drei Karten dann die falsche Gräfin im Becken ertränkt, ist eher Kopfschüttelns wert. So überraschen manche Bilder, ohne neue Einsichten zu vermitteln, müssen sich selbst genügen, ohne weiter am Handlungsstrang zu knüpfen.