Die Entstehungsgeschichte dieser Oper lässt aufhorchen. 1763 sollte Les Boréades in Paris über die Bühne gehen, doch nach zwei Probeaufführungen verschwand das Werk plötzlich aus der Öffentlichkeit und danach ganz in der Versenkung. An der Qualität der Oper kann es nicht gelegen haben, Rameaus Alterswerk zählt zu seinen besten Bühnenwerken. Gründe sind wohl in der Aussage zu suchen; denn diese ist überraschend politisch: Es geht um das Thema der Selbstbestimmung einer Frau. So liegt es nahe, dass die Zensur des Ancien Régime die öffentliche Uraufführung verhindert hat. Am Badischen Staatstheater Karslruhe ist die Oper nun in einer neuen Inszenierung zu erleben.
Wie in den meisten Barockopern liegt ein mythologischer Stoff zugrunde, den der (vermutliche) Librettist Louis de Cahusac allerdings erstaunlich mutig in Richtung Aufklärung gewendet hat. Die Königin Alphise soll einen Abkömmling aus dem Geschlecht der Boréaden heiraten, so will es die Tradition. Zwei Brüder, Calisis und Borilée, werben um ihre Gunst. Alphise fügt sich diesem ehernen Gesetz aber nicht, weil sie Abaris, einen Prinzen unbekannter Herkunft, liebt. Zuerst kämpfen die Boréaden mit den Mitteln der Manipulation, später mit roher Gewalt um die Zustimmung Alphises zur Heirat. Aber ohne zu wanken, wenn auch unter enormen Seelenqualen, bleibt sie standhaft. Abaris wird ebenfalls von Zweifeln geplagt. Von selbst allerdings kommen beide nicht gegen die Macht der Boréaden an – ein Zauber ist vonnöten. Von der allegorischen Figur L'Amour wird ihnen ein Pfeil Apolls überbracht, der ihnen helfen soll, ihre Freiheit zu finden.
Die Karlsruher Produktion hat den Grundgedanken dieser Oper konsequent modern gelesen – als einen Befreiungskampf aus tyrannischer Herrschaft. Wie es in einem der Hauptgedanken der französischen Aufklärung heißt: Kein Mensch hat von Natur aus das Recht, einem Anderen zu gebieten. So beherrschen Dunkel und Licht als Symbole die Bühne. Ein großer schwarzer Erdball hängt drohend darüber, bis eine kleine hell leuchtende Kugel Erleuchtung bringt. Apolls Pfeil der Freiheit wird hier zum Licht der Aufklärung.
In bemerkenswert klaren Bildern hat der Regisseur Christoph von Bernuth auf der fast leeren Bühne schlüssig eine packende Opernhandlung entwickelt, in der allein durch kluge Personenregie den Figuren die Aufmerksamkeit gehört. Der Transfer in die Gegenwart gelingt behutsam und ohne jede Überfrachtung mit Aktualität. Nur ein besonders berührendes Bild stellt einen eindeutigen Bezug zur Gegenwartsgeschichte her. Wenn das Volk im vierten Akt das Schicksal seiner von den Boréaden verschleppten Königin betrauert, sehen wir, wie Menschen zum Gedenken Blumen und Kerzen vor ihrem Bild niederlegen, und an der Wand ist ein Graffito der siegreichen Alphise zu sehen – in einer Hand eine Rose und in der anderen das Victoryzeichen. Ein Bild, wie wir es vom stillen Widerstand gegen Diktaturen wie z.B. in Belarus kennen.