Seiner Heimat Suffolk an der Nordseeküste sowie der Janusköpfigkeit des Meeres, das Leben spendet und Leben vernichtet, hat Benjamin Britten 1945 mit seiner ersten erfolgreichen Oper Peter Grimes ein tönendes Denkmal gesetzt. Mehrere vieldeutig schillernde Orchester-Zwischenspiele daraus fanden den Weg in den Konzertsaal, und Peter Pears, langjähriger Lebensgefährte des Komponisten, bekam die stimmlich wie charakterlich ergiebige Titelrolle geradezu auf den Leib geschrieben.
Die Seele an einem sonnigen Strand baumeln lassen? In der aktuellen Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper verschlägt es uns in ein wenig idyllisches englisches Fischerdorf, in dem nicht nur das Klima rau ist, sondern auch der Ton der hart arbeitenden Männer. Das Stück, basierend auf einem Gedicht von George Crabbe, beginnt mit einem Prozess: dem Verdacht wird nachgegangen, dass ein Fischerjunge, der dem Beschuldigten Peter Grimes anvertraut war, von dessen Boot auf hoher See über Bord gegangen sei; aber Fehlverhalten kann Grimes nicht nachgewiesen werden. Doch der vermeintliche Freispruch ist eigentlich eine Drohung: „Das ist eine Sache, an die sich die Leute immer erinnern werden“. Für den renommierten norwegischen Regisseur Stefan Herheim, der am Nationaltheater sein überfälliges Hausdebüt gibt, wird aus dem Richterspruch ein Gerüchtsurteil: die geschlossene Dorfgemeinschaft macht Grimes zum permanenten Einzelgänger, der aus der lastenden Schuldvermutung nicht herauskommt.
Statt Ouvertüre ein Beginn mit Meeresrauschen und Mövenrufen, selbst im Parkett; Ellen Orford, Lehrerin, die als eine der Wenigen zu Grimes hält, tritt stumm ein und schaut ins seitlich eintretende Sonnenlicht. Nach und nach kommen die Fischer mit ihren Frauen, ein Richtertisch wird aufgebaut. Als Grimes im Saal eintrifft und die Musik beginnt, weichen alle zurück von ihm, wie von unsichtbaren magnetischen Polen getrieben. Ein Bild, das sich wiederholt, einprägt: einer gegen alle! Eine Parallele zur Gegenwart, wenn auch heute Vorwürfe gegen Angeklagte trotz Freispruchs im Prozess nie mehr aus einer Biografie entfernt werden können. Dass der Librettist Montagu Slater in seinem Textbuch noch auf andere Charakterzüge von Grimes anspielt, belässt Herheim angesichts der ohnehin verwickelten Geschichte im Hintergrund.
Silke Bauers Bühne bleibt einfach: als holzgetäfelter Rathaussaal mit drückend niedriger Decke, die für einen Kirchenraum wie beim Einatmen eines Brustkorbes nach oben gefahren werden kann. Dahinter ein blaugrauer Theatervorhang, der in der Tiefe den Blick auf die Nordsee freigeben kann, in ruhig wogende Meeresstimmungen, bläulich kalte Sonnenstrahlung über flach glitzernde Wellen, einzelne rötlich warme Gefühlswallungen (gut gelungenes Licht von Michael Bauer, Videosequenzen von Torge Møller). Wenig Realismus in Fischernetzen und Ölzeug, einfache Stühle beim Gottesdienst und in Aunties Taverne, in der die Frauen tratschen und Männer bei Aunties Nichten Zerstreuung suchen. Keine Ablenkung auch in der einfachen Straßenkleidung der Akteure (Esther Bialas), nur Ellens für Grimes gestrickter XXL-Pullover wird oft Teil der Geschichte.
Herheim nimmt auf, was Britten in seiner Oper vorgibt. Konkretes weitet sich in Universelles aus, Wetter und Wellen reflektieren, kommentieren, verstärken die Handlung. So werden auch die Zwischenspiele Teil dieser meisterhaft flüssigen wie zugespitzten Produktion: fasziniert hörte man zu, wenn aus den See-Interludien Seelenportraits wurden. Edward Gardner, ebenfalls erstmals am Nationaltheater, ist ein Grimes-erfahrener Engländer, der Sänger und Staatsorchester in solistischen wie volkstümlich artistischen Auftritten zu mitreißende Massenszenen und eindringlichen Typstudien mitriss. Plastisch arbeitete er jedes rhythmische Detail heraus, ließ die Partitur in aller orchestralen Wucht ebenso aufleuchten wie in suggestiven kammermusikalischen Abschnitten. Das mischte sich perfekt, entfachte einen immer drängenderen Sog der Ausweglosigkeit von Grimes' Situation.