Georges Bizets Carmen gilt als musikdramatisches Schlüsselwerk des Hispanismo, eines Stils, der die französische Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägte. Hier galt Spanien als das „andere“ Frankreich: leidenschaftlicher, düsterer, auch weniger zivilisiert, wie ein Stück Mittelalter. Innerhalb Spaniens reizte wiederum Andalusien als andersartig. Die heißblütige Kultur der Gitanos mit ihrem Flamenco zog Schriftsteller und Musiker gleichermaßen an. Obwohl Bizet selbst nie spanischen Boden betreten hatte, bekam er 1872 von der Pariser Opéra Comique den Auftrag, die Carmen-Novelle des Prosper Mérimée zu vertonen; seine musikalische Beschreibung des Lebens in Sevilla wirkt trotzdem auf uns weitaus authentischer als in anderen Opern am selben Ort, etwa Rossinis Barbier oder Mozarts Figaros Hochzeit. Die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy, ebenso französischer Herkunft, erweiterten den Handlungsrahmen um die Figur der Micaëla, kreierten ein Beziehungsgeflecht aus einer Frau, die zwischen zwei Männern steht, und einem Mann zwischen zwei Frauen.
Die bulgarische Regisseurin Vera Nemirova, Meisterschülerin von Peter Konwitschny, hat in Nürnberg bereits Künnekes Vetter aus Dingsda erfolgreich eingerichtet, in Frankfurt den Ring oder Don Carlos in Wien. Zum Saisonauftakt hat sie am Staatstheater Nürnberg nun Carmen neu inszeniert. Ihr Ansatz für den Handlungsablauf ist der unbedingte Freiheitswille der Carmen, ihre Kontrolle und Steuerung der Gefühle, um in einer Beziehung die Oberhand zu behalten. Nicht ihre Sinnlichkeit wird Konflikte auslösen, sondern die Unfähigkeit ihres Liebhabers, ihre Freiheit hinzunehmen, von vermeintlicher Männerehre Abschied zu nehmen.
Mit Anna Dowsley, junge australische Mezzosopranistin am Sydney Opera House, hatte die Inszenierung ein Kraftzentrum, das Nemirovas Intention authentisch wie schonungslos umsetzte. Ihr Spiel einer Einzelgängerin mit erotischen Verführungskünsten, der Intensität ihrer Liebe, Verletzlichkeit ihrer Gefühle oder Aufsässigkeit gegen Gesetze war kompromisslos und faszinierend, ob in modischer Lederjacke mit Cargohose, schwarzem Totenkopf-Shirt mit Strass-Steinen oder eng anliegendem blutrotem Torera-Kostüm. Nicht nur darstellerische Leuchtkraft zeichnete ihre Carmen aus, auch in ihrer musikalischen Interpretation, mit weichem, tiefem Timbre und auf technisch fabelhaftem Koloraturniveau, spiegelte sich berührend Liebe, Stolz und Zorn im dramatischen Stelldichein.
Vera Nemirova hat klassische Andalusienklischees aus der tragischen Geschichte herausgehalten; den Spielplatz umrahmt eine mittelalterliche Stadtszene mit Mauerfragment, die auch in Südfrankreich oder dem Elsass zu finden wäre; ein geschwungenes Tor mutiert mit rotem Theatervorhang zur Bühne auf der Bühne, als Lillas Pastias Schmugglerkneipe oder Einlass zur Arena, deren Corridaszenen durch den Chor verdeckt werden. Heike Scheele arrangiert geschickt Kunst und Krempel, Klavier, alte Kronleuchter und ausgemusterte Kinosessel, die zur Liebesszene zwischen Micaëla und Don José einladen. Die Kostüme von Marie-Thérèse Jossen-Delnon sind anfangs eher grau wie die Mauersteine, aus denen rote Kopftücher des Chores herausblitzen; schwarz wie die Nacht die Gewänder der Schmuggler, die Flüchtlinge in einem Container zusammenpferchen; das Motiv von Fluchthilfe und Menschenhandel wird dann jedoch nicht weiter ausgeleuchtet. Aus dem Mauergrau dürfen die Damen im letzten Akt endlich in ein Meer roter Flamencokleider schlüpfen, wenn sie tanzend und feiernd Escamillo, den heldenhaften Star der Arena, bejubeln.