Europas bedeutendste Opernhäuser – von London, Paris, Brüssel bis nach Mailand – schmieden derzeit Neuinszenierungen von Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Keiner Premiere des Rheingolds fieberten die Wagnerianer jedoch derart entgegen, wie jener am Ort seiner Uraufführung, in München. Denn die Bayerische Staatsoper konnte für ihren neuen Ring-Zyklus den umjubelten Regisseur Tobias Kratzer gewinnen.
Sein Plädoyer für Toleranz im Tannhäuser ist als Kultinszenierung in die Rezeptionsgeschichte der Bayreuther Festspiele eingegangen. Und schon mit diesem Rheingold erweist sich Kratzers Ring-Konzeption als so schlüssig wie genial: Nachdem manch ein Regieteam die Götter als Menschen, den Ring als „Theater auf dem Theater“, als Kapitalismuskritik oder gar als naturalistisches Fantasy-Epos auf der Opernbühne verwirklicht hat, sieht Kratzer in seiner szenischen Interpretation die Götter schlichtweg als das, was sie ja auch sind: als heidnische Götter. So ist Wotan gleichzusetzen mit Odin, Freia mit Freya und Fricka mit Frigga usw.
Die gotische Kathedrale, in welcher Kratzer seine Inszenierung spielen lässt, scheint in der gegenwärtigen, auf der Opernbühne präsentierten Gesellschaft, jegliche Relevanz verloren zu haben. In die Heilige Messe strömen schon lange keine Kirchgänger mehr. Lediglich zwei korrupte Priester – Fasolt und Fafner – hüten das leergefegte und marode, doch einst prachtvoll gewesene kirchliche Bauwerk. Die Religionsgeschichte wiederholt sich und kehrt sich dabei gleichermaßen um. So wie vor Jahrtausenden das Christentum und der damit verbundene Monotheismus die heidnischen Götterwelten abgelöst hat, werden in Kratzers Ring-Zyklus die heidnischen Götter – welche doch nie fortgewesen sind, sondern zwischenzeitlich bloß in die unsichtbare Irrelevanz verschwanden – die Macht zurückerlangen. Wotan nutzt das von Alberich abgeluchste Rheingold um in den von den Priestern (=Riesen) aus freien Stücken veräußerten und sanierten Räumlichkeiten einer Kathedrale seiner längst untergegangen und überholt geglaubten Religion zu frönen. Der in dieser Gesellschaft nicht mehr relevante Katholizismus wird ersetzt, der mythologische Göttervater baut sich eine neue Gefolgschaft und damit eine neue Religionsgemeinschaft auf.
Kratzer beweist sich in dieser Inszenierung im besten Sinne als Meister der Bühne. Er sieht das Rheingold nicht bloß als heiteres Konversationsstück, wie es andernorts häufig als witzig anheimelnder Vorabend eines Märchens inszeniert wird. Mit eindringlicher Personenregie, akribisch in Mimik und Gestik umgesetzt, setzt Kratzer all die Dramatik, die unterschwelligen Konflikte und speziell die Gewalt und Bösartigkeit der Handelnden in Szene. Wotans Ring-Raub von Alberich als auch dessen vorangegangene Avancen an die Rheintöchter werden so als eindringliches Demütigungs- und Missbrauchsdrama dargestellt. Die häufig unschuldig-heitere Kröte/Schlangen-Verwandlungsszene wird zu einem fesselnden Psychogramm des Machtmissbrauchs an Mime.
Ähnlich spannungsvoll wie die Regiearbeit Kratzers wurde Vladimir Jurowskis Wagner-Dirigat in München erwartet. Der GMD der Bayerischen Staatsoper nahm zunächst Abstand von den Werken des Hausgotts Richard Wagner, eben um sich bewusst von seinem Vorgänger Kirill Petrenko abzusetzen. Jurowski bewies sich in dieser Premierenserie ebenso wie der Regisseur als Musikdramatiker im beste Sinne und orientierte seine feurige, wie impulsive Interpretation musikalisch eng am szenischen Geschehen. Er arbeitete immer wieder das Schroffe und Urwüchsige, ja gelegentlich auch das noch Unvollkommene der Partitur heraus. Aus dem Graben ertönte durch das Bayerische Staatsorchester ein hochexplosiv-mörderisches Musikdrama – und kein Wohlfühl-Rheingold als fließendes Konversationsstück – als überraschend, spannungsgeladener Kontrast zu dem verdichteten Präzisionsklang Kirill Petrenkos.
In den großen Partien versammelten sich auch einige bis dato weniger bekannte Solist*innen des Wagner-Fachs. Umso größer die Überraschung, mit welch stimmlicher als auch schauspielerischer Stärke sie allesamt ihre Rollen verkörperten. Alles drehte sich in dieser Inszenierung um den entblößten und sich dabei komplett verausgabenden Alberich von Markus Brück. Mit tief-schwarzer Stimmfarbe, deutlicher Artikulation, zugleich fesselnder Phrasierung und einer an seine körperlichen Grenzen gehenden szenischen Darstellung schuf er ein Rollenporträt von höchster Glaubhaftigkeit. Mit Nicholas Brownlee – erst Anfang 30! – stand ihm ein ebenbürtiger Wotan entgegen. Er hat die Partie vollends verinnerlicht, sie scheint ihm ideal in der Stimme zu liegen. Sean Panikkar gab ihm zu Seite stehend einen intellektuellen, klug-kalkulierenden Loge. Die Fricka der Ekaterina Gubanova geriet mit starkem Charakter dabei zuweilen auch sinnlich und klangvoll.
In der Schlussszene nehmen die heidnischen Götter des Rheingolds sich selbstgefällig selbst erhöhend einen Platz im prachtvoll, wie imposanten Hochaltar ein, an jenen Stellen, wo gewöhnlich Christus, Maria oder Heilige platziert sind. Die aus der Tiefe dieser gotischen Kathedrale drohend erklingende Anklage der Rheintöchter erhält dadurch eine ganz andere Wahrhaftigkeit: „Falsch und feig ist, was dort oben sich freut“. Diese lediglich für den Augenblick die Menschenmassen religiös anziehende, jedoch anmaßende und zugleich entweihende Inanspruchnahme einer christlichen Verehrungsstätte durch Wotan und seine Sippschaft ist – auch aufgrund eines vorangegangenen Missbrauchs an Freia und der Erniedrigung Alberichs – offenkundig zum Scheitern verurteilt. Eine Götterdämmerung ist folglich unabwendbar und schon im Vorabend des Rheingolds offensichtlich.